Kaylin und das Reich des Schattens
Augen”, sagte der Leontiner als Nächstes. Seine Klauen hatten ihren Weg in seinen Schreibtisch gefunden, und wie es aussah, würden sie eine oder vier neue Rillen zu seiner Oberfläche hinzufügen.
“Ja, Marcus.” Sie begann zu gehen, drehte sich aber noch einmal um. “Dürfte ich Zugang zu den alten Aufzeichnungen bekommen?”
Er fragte nicht einmal, welche. “Ja. Aber sieh sie dir in Grammayres Turm an. Nirgendwo anders.”
“Aber der Falkenlord –”
“Wird einverstanden sein.”
Das Gespräch wollte sie
wirklich
nicht mit ansehen. Sie zog sich so schnell wie möglich zurück, und erst, als sie außerhalb von Marcus’ Sichtweite war, merkte sie, dass sie stillschweigend zugestimmt hatte, sich von Severn irgendwohin führen zu lassen.
Sie hielten vor einer Taverne, die Kaylin dunkel von ihren Patrouillen in Erinnerung hatte. Sie war weit genug von zu Hause – ihrem – entfernt, dass sie sie nur betreten hatte, als der Besitzer es für nötig hielt, die Falken zu rufen. Da das nur ein oder zwei Mal der Fall gewesen war, konnte Kaylin davon ausgehen, dass es sich um einen ziemlich ruhigen Ort handelte.
“Ich esse hier oft”, sagte Severn, während sie unter dem verwitterten Schild standen, das an ungleichen Ketten über ihren Köpfen hing. Das Schild war bestimmt einmal ordentlich gewesen. Jahre voller Sonne, Regen und randalierender Teenager hatten ihren Dienst getan. Der Name konnte allerdings immer noch gelesen werden – wenn man lesen konnte. “Zum gefleckten Schwein.”
“Oft?”
“Oft.”
“Damit willst du mir sagen, ich soll nichts Peinliches anstellen, richtig?”
“So ungefähr.”
“Ich werde mein Bestes geben.”
“Soll heißen?”
“Ich fange keinen Streit an, wenn du es auch nicht tust.”
Er zuckte mit den Schultern. Aber das Zucken war steif, und sein Lächeln nur ein Anspannen der Lippen, eher Reflex als Ausdruck. Sie sagte sich, dass es ihr egal war. Traurigerweise hatte sie sich das in den letzten Tagen oft sagen müssen, und es fing an, ihr auf die Nerven zu gehen.
Alles ging ihr auf die Nerven.
Severn betrat die Taverne, und sie kam hinter ihm her, wie ein Schatten. Wie, konnte man sagen, der Schatten, der sie einst gewesen war, als er für sie Sicherheit – und mehr – in Nightshade gewesen war. Sie blieb stehen, aber er merkte es nicht.
Der Wirt trat hinter der Theke hervor. “Severn”, sagte er mit einem breiten Lächeln. Das Lächeln blieb, bis der Mann nahe genug war, um Severns Gesicht zu erkennen. Kaylin konnte das nicht, aber sie musste auch nicht.
“Schlimmer Tag?”, fragte der Mann mit dem Rücken zur Theke. Er wartete nicht auf eine Antwort. Der Beweis, falls sie ihn brauchte, dass Severn hier
wirklich
oft aß. Der Mann kannte seine Launen und war von ihnen nicht beleidigt.
“War es”, sagte Kaylin leise zu ihm.
Der Mann blieb am einzigen sichtbaren Zugang zum Schnapsschrank hinter der Bar stehen und starrte sie an. Nach einem Augenblick runzelte er die Stirn. “Ich habe dich doch schon einmal gesehen?”
Sie deutete auf den kleinen weißgoldenen Falken, der auf ihre Tunika gestickt war. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihren Übermantel anzuziehen, weil sie heute nicht auf Patrouille war.
“Vergesse nie ein Gesicht”, sagte er ohne jede Bescheidenheit. “Gehörst du zu Severn?”
“Irgendwie schon.”
“Nimm deinen üblichen Tisch”, sagte der Mann zu Severns Rücken. Da Severn sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, nahm Kaylin an, dass es sich dabei nur um eine Formalität gehandelt hatte, und sie hatte nicht unrecht. Aber der Mann kam auf sie zu, streckte eine große, schwielige Hand aus, und lächelte. Ein breites Lächeln. Er hatte noch alle Zähne. “Wenn du eine Freundin von Severn bist, bist du hier herzlich willkommen.” Seine Stimme passte zu seinem Lächeln, sie war ein wenig zu laut, ein wenig zu freundlich, und trotzdem irgendwie vollkommen echt.
Er senkte sie jedoch ein wenig, als er sich näher zu ihr beugte. “Da ich euch beide aber noch nie zusammen gesehen habe, lass mich dir einen Rat geben, Mädchen. Wie heißt du?”
“Kaylin”, sagte sie ihm. “Kaylin Neya. Gefreite. Bei den Falken.”
“In Ordnung. Ich bin Burlan. Burlan Oaks.”
Klang wie ein Straßenschild. Oder eine Kreuzung. “Das haben Sie sich ausgedacht, oder?”
“Kluges Mädchen. Aber nicht klug genug. Pass auf, ich kenne Severn ein bisschen – mehr als die anderen hier –, und ich sage dir, dass heute nicht der
Weitere Kostenlose Bücher