Kaylin und das Reich des Schattens
ähnlich. Der Wolflord hat gewusst, warum ich darum gebeten habe, und mir meine Bitte erfüllt. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob der Falkenlord ebenfalls einverstanden sein würde. Kaylin, was
machst
du da?”
Sie runzelte die Stirn. “Was meinst du?”
Ihr fiel auf, dass er sich bemüht hatte, Abstand zwischen ihnen zu halten. Als sie sich in die Ecke des Sofas gesetzt hatte, hatte er den hölzernen Stuhl genommen. Er verließ ihn jetzt und kam über den Teppich, um an ihrer Seite zu knien. Na ja, um auf dem Teppich neben ihren Füßen zu knien. Er war viel größer als sie.
Er nahm ihre Hände in seine, und erst da merkte sie, dass sie mit den Manschetten ihres Hemds gespielt hatte. “Meine Arme jucken”, sagte sie, halb entschuldigend.
Aber er ließ nicht sofort los, und sein Gesichtsausdruck verschob sich nicht in die bekannte Verzweiflung. Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war stechend, der Blick eines Falken, mehr als ihrer es je sein würde.
“Lass mich sehen”, sagte er.
“Was sehen?”
“Deine Arme.”
Sie nickte, und er löste vorsichtig die Knöpfe, die ihre Manschetten zusammenhielten. Er schon den rechten Ärmel bis zu ihrem Ellenbogen hoch und drehte ihr Handgelenk behutsam um, sodass es dem Licht des Raumes ausgesetzt war. Es war magisches Licht, kein Feuer, und es war regelmäßig und hell. Oder so hell, wie er es haben wollte. Er verdiente
wirklich
mehr als sie.
Aber sie vergaß, es ihm übel zu nehmen, als sie das eine Wort hörte, das er sprach. Er setzte ihren Arm vorsichtig ab, aber sie spürte die plötzliche Spannung in seiner Hand. Er stand auf, ging zu seinem Stuhl, und legte beide Hände auf seine breite Rückenlehne, wie um sich festzuhalten.
Sie schrie fast auf, als das Holz splitterte.
Fast. Aber als sie stattdessen auf ihre Arme sah, auf was auch immer er darin gelesen hatte, erstarrte sie.
Die Zeichen waren verändert. Die Schrift war dicker, die Schnörkel fast verwischt. “Es – es hat sich verändert.”
“Ja”, sagte er ohne sie anzusehen. “Es hat sich verändert.”
Und sie wusste, dass er es erwartet hatte, aber auch gefürchtet. “Severn –”
“Es war alles
umsonst
”, sagte er verbittert, drehte sich um, schob seinen Stuhl unsanft zur Seite und sah sie fest, fast wild an.
“Alles um –” Sie stand auf. “Ich kann nicht – ich muss gehen.”
Er sagte nichts, während sie ihre Stiefel nahm und floh. Sie war schon an drei Häusern entlang die Straße hinuntergerannt, ehe sie anhielt, um sie anzuziehen.
9. KAPITEL
“K aylin?”
“Guten Morgen, Marcus.”
“Ja. Ist es. Morgen”, fügte er hinzu und kniff die Augen zusammen. “Bist du auch wirklich Kaylin Neya?”
“Ha ha.”
“Na, ihren Sinn für Humor hast du jedenfalls.”
Sollte natürlich heißen gar keinen. Sie starrte ihn unheildrohend an.
“Du
hast
letzte Nacht doch geschlafen?”
Sie sagte nichts und beschloss, die dunklen Ringe unter ihren Augen für sich sprechen zu lassen. Sie waren ihr ewiges Anhängsel, und heute Morgen hatte sie den Spiegel tatsächlich lange genug für sich gehabt, um sie auch zu sehen. Sie hatte deswegen die Weckrufe verpasst, und das tat sie sonst so gut wie nie.
Caitlin sah wie immer unerschütterlich fröhlich aus und rauschte nur mit einer kleinen Pause, um sie zur Begrüßung zu umarmen, an ihnen vorbei. Sie umarmte nur selten jemanden, aber bei Kaylin vergaß sie es nie. Caitlin war vielleicht ein Büromensch, aber sie hatte es irgendwie geschafft, Marcus im Zaum zu halten – oder was dafür galt – jedenfalls meistens. Sie mochte seine Launen nicht sonderlich, aber das tat niemand im Büro. Sie war älter, als sie aussah, und war als Hilfskraft für Marcus schon im Einsatz, seit Kaylin bei den Falken eingeführt worden war. Kaylin fand sie vogelartig, und es stimmte. Sie hatte Kaylin unter ihre Fittiche genommen, sie adoptiert. Sie hatte Kaylin gezeigt, wie man mit dem ganzen Papierkram umging, der auf Marcus’ Schreibtisch landete – weil Marcus sich in nächster Zeit nicht darum kümmern würde –, und hatte dafür gesorgt, dass sie sich zu Hause fühlte.
Oder eher, dass sie sich so fühlte, als hätte sie ein Zuhause.
Caitlin hatte für sie ihre Wohnung gefunden. Caitlin hatte die Miete so weit heruntergehandelt, dass sie “eine Schande” war. Aber Caitlin stellte sich bei Kaylins Gesprächen mit Marcus nicht daneben. Sie war clever.
Und schon war sie weg, mit nur einem kurzen Zungenschnalzen, das sagen wollte, dass
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