Keeva McCullen 5 - Kuss der Pandora (German Edition)
nahm sie solche diffusen Gefühle ernst, mochten sie anderen noch so irrational erscheinen. Sie spürte einfach einen unbändigen Zorn in der Nähe dieses Tisches – und sie vermutete, dass das möglicherweise eine Resonanz der Gefühle ihres Großvaters zum Zeitpunkt seines Todes sein könnte.
Allerdings sollte sie in zwei Stunden auf dem Flughafen sein, denn dann ging ihr Flug zurück nach Norwegen. Und sie musste zumindest einmal in die Nähe des Tisches gehen und nach wichtigen Papieren suchen - also unterdrückte sie ihren Widerwillen und näherte sich diesem Platz. Sofort fühlte sie wieder die Wolke des Zorns, die fast schon greifbar in der Luft zu hängen schien.
Ihre Nackenhaare richteten sich auf und mühsam zwang sie sich, weiterzugehen. Auf dem Tisch lagen zwei kleine Schatullen – hübsche, aus dunklem Holz und mit Schnitzereien verzierte Kästchen -, die sie unter anderen Umständen wohl vielleicht sogar mitgenommen hätte. Aber nicht jetzt, nicht, nachdem ihr Großvater direkt über ihnen zusammengebrochen und gestorben sein musste!
Neben den beiden kleinen Kästen lagen einige durcheinandergeratene Blatt Papier. Malin trat näher heran und sah, dass sie unbeschrieben waren, sie konnte sie also getrost liegen lassen. Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter um den Tisch herum. Sie entdeckte eine Schublade unter der Tischplatte, zog sie auf und fand auch dort nur unbeschriebenes Papier und ein paar leere Umschläge. Ebenfalls nichts von Belang.
Sie wollte sich gerade umdrehen und den Raum – voller Erleichterung – verlassen, als sie unter der Kommode direkt neben dem Tisch etwas Hellgraues hervorblitzen sah. Mit ein paar schnellen Schritten ging sie dorthin, bückte sich und hob den Gegenstand auf. Erstaunt stellte sie fest, dass es sich um einen dicken Briefumschlag handelte. Und noch verblüffter war sie, als sie die Adresse darauf las: er war an Robert Paddock adressiert.
„Na, so ein Pech aber auch“, murmelte Malin.
Hätte sie den Umschlag etwas früher entdeckt, so hätte sie ihn Robert Paddock bei der Beerdigung persönlich übergeben können. Für einen kurzen Moment kämpfte sie mit ihrer Neugierde. Es war offensichtlich, dass ihr Großvater den Brief erst kurz vor seinem Tod geschrieben hatte. Was mochte er wohl enthalten?
Sie befühlte den Umschlag und glaubte, ein kleines Büchlein zu ertasten. Sofort ließ ihr Interesse wieder nach. Aleksander und Robert waren Kollegen gewesen. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendein Buch mit Ratschlägen für Lehrer oder so etwas.
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es blieb ihr nicht mehr genug Zeit, um den Umschlag direkt bei Mr Paddock zuhause abzuliefern. Also würde sie ihn auf dem Flughafen mit Briefmarken versehen und dort in einen Briefkasten werfen – das sollte reichen, beschied sie.
Sie steckte ihn in ihre Handtasche und sah sich noch ein letztes Mal um.
Auf Wiedersehen, lieber Großvater Alex, dachte sie. Bis irgendwann, in einer anderen Welt.
Dann ging sie.
*
Phoebe Ackerman begutachtete mit Kennerblick den Inhalt der Wohnung. Sie war zufrieden mit dem Auftrag. Der alte Mann, der bis zu seinem Tode hier gelebt hatte, war offensichtlich sehr ordentlich gewesen – oder hatte eine Zugehfrau gehabt -, jedenfalls war die Wohnung weder schmutzig noch zugemüllt. Es würde ein Leichtes sein, die Wohnräume wunschgemäß ausgeräumt und gereinigt bis zum Ende dieser Woche zu übergeben.
Doch nun galt es zuerst festzulegen, welche der Gegenstände für die Auktion beiseite geschafft werden sollten – und welche gleich zur Müllhalde gebracht werden konnten. Das war ihre Aufgabe, dafür war sie jetzt hier.
Phoebe war schon seit vielen Jahren im Entrümpelungsgeschäft und besaß genug Erfahrung darin, den Spreu vom Weizen zu trennen – also den Müll von den noch verwertbaren Dingen.
Sie und ihr Mann hatten diese Firma vor bald dreißig Jahren gegründet, und nach dem Tod ihres Mannes führte sie den Laden einfach alleine weiter. Das war trotz ihres Alters kein Problem für sie, für die schweren Arbeiten waren sowieso die Jungs zuständig – nicht ihre eigenen, sie und ihr Mann hatten keine Kinder gehabt, sondern drei Arbeiter, die schon seit vielen Jahren für sie arbeiteten. Phoebe brauchte nur die Gegenstände, die noch einen Wert besaßen, mit grünen Aufklebern zu markieren und den wertlosen Plunder mit roten. Das schaffte sie auch mit über siebzig.
Nach der Auktion würde ihr Auftraggeber – in diesem Fall
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