Keeva McCullen 6 - Der Wiedergänger (German Edition)
Überwurf aus fein gewebtem, weißem Leinenstoff, den seine Großmutter oft getragen hatte - und streifte ihn über. Er war ihm ein wenig zu lang - Amelia war eine sehr große Frau gewesen, zumindest ehe das Alter sie gebeugt hatte -, doch er passte ihm ansonsten erstaunlich gut.
Nach einem letzten bangen Blick in die Runde - noch immer war alles ruhig, auch wenn der umgebende Wald auf einmal deutlich düsterer und bedrohlicher zu sein schien als zuvor - nahm er den Stab seiner Großmutter und die Taschenlampe in die eine Hand, das aufgeschlagene Buch in die andere und begann zu lesen. Seine Stimme klang unsicher und zittrig und er unterbrach sich, um sich zu räuspern und ein wenig zu fassen.
Nach einigen Sekunden hob er erneut an - und diesmal drangen die uralten Worte laut und eindringlich durch den stillen, dunklen Wald ...
*
Das Geräusch von fließendem Wasser weckte Keeva und sie schlug die Augen auf.
Es dauerte einige Sekunden, ehe ihr wieder einfiel, wo sie sich befand - wobei die pinkfarbene Bettwäsche ihrer Erinnerung deutlich auf die Sprünge half. Shane lag nicht mehr neben ihr, also war offensichtlich er es, der im Bad nebenan soviel Lärm machte. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war gerade mal kurz vor vier Uhr morgens. Sie stöhnte und schloss die Augen wieder. Sie hatten zwar gesagt, dass sie früh aufbrechen wollten, aber so früh?
Vielleicht hatte er aber auch nur nicht mehr schlafen können, nach all dem, was am Abend zuvor zwischen ihnen passiert war ...
Als Keeva gestern unter der Dusche gestanden war, hatte sie eher spontan den Entschluss gefasst, Shane zu verführen. Sie wollte einfach einmal nicht über mögliche Konsequenzen nachdenken, nicht immer nur den Verstand die Entscheidungen treffen lassen, sondern ganz nach ihrem Gefühl handeln. Und sie hatte es nicht bereut, es war genauso schön gewesen, wie sie es sich im Stillen erhofft hatte.
Doch jetzt wurde ihr doch ein wenig mulmig. Was, wenn Shane wider Erwarten kein Interesse an einer echten Beziehung hatte? Wenn er sein bisheriges, völlig unabhängiges Leben bevorzugte? Dann wäre ihre Freundschaft mit dieser Nacht wohl dahin. Das wäre schrecklich, allein die Vorstellung, Shane wieder zu verlieren, verursachte ihr Bauchkrämpfe. Er war zu einem wichtigen Bestandteil ihres Lebens geworden - und sie wollte ihn weiterhin in ihrer Nähe haben.
Ihre Sorgen verflogen jedoch, als er wenige Minuten später aus dem Bad kam, sah, dass sie wach war und sie zärtlich küsste. Sie erwiderte seine Umarmung und grenzenlose Erleichterung überkam sie. Da war nicht der kleinste Hinweis auf Reue oder Distanz in seiner Körpersprache zu entdecken, nichts, was darauf hinwies, dass er die letzten Stunden ungeschehen machen wollte. Im Gegenteil, er wirkte entspannter und glücklicher, als sie ihn jemals zuvor gesehen hatte.
Einige Minuten später lösten sie sich voneinander. Shane strich ihr durch die Haare und deutete mit dem Kinn zur Zimmertür.
„Wir sollten uns auf den Weg machen“, meinte er. „Es dämmert bald und ich habe irgendwie ein komisches Gefühl in meinem Bauch.“
Als sie ihn schräg angrinste, küsste er sie erneut.
„ Daher kommt mein komisches Gefühl nicht“, meinte er lächelnd. „Nein, es ist etwas anderes. Der Kobold gestern, die altmodischen Häuser, diese scheinbare Zeitvergessenheit … dies hier ist ein magischer Ort, ein Ort, an dem die Geister noch aktiv sind. Und ich befürchte, das gilt auch für die Bewohner dieses Dörfchens. Irgendetwas hatte der Mann, nach dem wir suchen, mit dem Kästchen im Sinn, da bin ich mir ziemlich sicher. Die Zielstrebigkeit, mit der er die Schatulle gekauft hat, all das macht mich einfach unruhig. Ich kann es dir leider nicht besser erklären. Ich will ihn nur finden - ehe er weiß Gott was mit der Schatulle anstellt.“
*
Liekk-Baoth krabbelte aufgeregt im Inneren seines Gefängnisses hin und her.
Einerseits, weil er anscheinend gerade in der Gegend herumgetragen wurde, denn die Schatulle wurde kräftig durchgeschüttelt. Und das führte natürlich dazu, dass sein Zellengenosse, der Stein, sich ebenfalls ständig bewegte und Liekk-Baoth ihm ausweichen musste.
Zum anderen war er aber auch höchst gespannt, was jetzt passieren würde. Denn dass etwas passieren würde, da war er sich sicher.
Er hatte vor ein paar Stunden ein Gespräch belauscht, bei dem es um irgendein Ritual gegangen war. Als er dabei den Begriff 'Bannzauber' aufgeschnappt hatte, hatte ihn
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