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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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das Haus zeigte und seine Umwandlung erklärte. Bis zum Jahre 1828 war dort eine Seidenwürmerzucht eingerichtet gewesen, weniger um Seide zu fabrizieren, als um das zu erzielen, was man die Eier nennt. Elf mit Maulbeerbäumen bepflanzte Morgen in der Ebene von Montrouge und drei Morgen in der Rue de l'Ouest, die dann später mit Häusern bebaut wurden, hatten die Fabrik mit den Eiern der Seidenwürmer versorgt. Gerade als die Witwe Gottfried auseinandersetzte, wie Herr Barbet von einem Italiener, namens Fresconi, dem Inhaber der Fabrik, das als Hypothek auf den Grund und Boden und die Fabrik eingetragene Darlehn nur durch den Verkauf der drei Morgen, die sie ihm auf der andern Seite der Rue Notre-Dame des Champs zeigte, hatte zurückbekommen können, erschien ein großer hagerer alter Herr mit vollkommen weißem Haar am Ende der Straße, die an der Ecke der Rue del'Ouest einmündet.
    »Ah, da kommt er gerade recht!« rief die Vauthier; »sehen Sie, das ist Ihr Nachbar, Herr Bernard... – Herr Bernard,« sagte sie zu ihm, als der Alte in Hörweite war, »Sie werden nicht mehr allein sein, der Herr hier hat eben die Wohnung gegenüber von Ihrer gemietet...«
    Herr Bernard richtete seinen Blick auf Gottfried mit leicht begreiflicher Besorgnis; er schien sagen zu wollen:
    ›Das Unglück, vor dem ich mich immer fürchtete, ist endlich über mich hereingebrochen...‹
    »Mein Herr,« sagte er laut, »gedenken Sie wirklich, hier zu wohnen?«
    »Jawohl, mein Herr«, erwiderte Gottfried höflich. »Das ist zwar keine Behausung für Leute, die zu den Glücklichen der Welt gehören, aber es ist das Billigste, das ich in diesem Bezirk gefunden habe. Frau Vauthier beansprucht wohl auch nicht, an Millionäre zu vermieten... Adieu, meine gute Frau Vauthier, richten Sie es ein, daß ich heute abend um sechs Uhr einziehen kann; ich werde pünktlich zu dieser Stunde da sein.«
    Und Gottfried lenkte seine Schritte nach der Ecke der Rue de l'Ouest, indem er langsam ging, denn die Angst, die sich auf dem Gesichte des großen hageren Alten malte, ließ ihn annehmen, daß er noch eine Auseinandersetzung mit ihm haben würde. In der Tat wandte sich nach kurzem Zögern Herr Bernard um und kam hinter Gottfried her, um ihn einzuholen.
    ›Der alte Spion! Er will ihn verhindern, daß er wiederkommt...‹ sagte die Vauthier zu sich, ›das ist schon das zweitemal, daß er mir einen solchen Streich spielt... Aber nur Geduld! In fünf Tagen muß er seine Miete bezahlen, und wenn er nicht auf Heller und Pfennig bezahlt, schmeiße ich ihn raus. Herr Barbet ist ein Tiger, den man nicht erst zu reizen braucht, und... Aber ich möchte wohl wissen, was er ihm erzählt...‹ »Felicitas!... Felicitas! Du dicke Schlampe! Kommst du denn nicht?«... schrie die Witwe mit ihrer rauhen, schrecklichen Stimme; vor Gottfried hatte sie sich bemüht, mit sanften Flötentönen zu reden. Das Mädchen, eine dicke, rothaarige, schielende Person, kam jetzt herbeigelaufen.
    »Paß hier ein paar Augenblicke gut auf, verstehst du? Ich bin in fünf Minuten wieder hier.«
    Und die Dame Vauthier, die frühere Köchin des Buchhändlers Barbet, eines der erbarmungslosesten Darleihers auf Wucherzinsen, schlich hinter ihren beiden Mietern her, um von weitem zu horchen und mit Gottfried zu reden, wenn seine Unterhaltung mit Herrn Bernard beendet sein würde.
    Herr Bernard bewegte sich langsam vorwärts, wie ein Mann, der unschlüssig ist, oder wie ein Schuldner, der für seinen Gläubiger, der ihn eben mit unheilvollen Absichten verlassen hat, neue Vorschläge aussinnt. Obwohl Gottfried vor dem Unbekannten herging, beobachtete er ihn doch, indem er so tat, als betrachte er die Umgebung. So geschah es, daß Herr Bernard Gottfried erst in der Mitte der großen Allee des Luxembourggartens ansprach.
    »Ich bitte um Verzeihung, mein Herr,« sagte Herr Bernard und grüßte Gottfried, der seinen Gruß erwiderte; »ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich Sie aufhalte, ohne die Ehre zu haben, von Ihnen gekannt zu sein, aber ist Ihre Absicht, in das scheußliche Haus, in dem ich wohne, einzuziehen, unwiderruflich?
    »Aber, mein Herr...«
    »Gewiß,« unterbrach der Alte Gottfried mit befehlender Geste, »ich weiß wohl, daß Sie mich fragen können, mit welchem Rechte ich mich in Ihre Angelegenheiten einmische und Sie danach frage... Aber hören Sie mich an, mein Herr, Sie sind jung, und ich bin sehr alt; ich sehe älter aus, als ich bin, und bin doch schon siebenundsechzig Jahr

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