Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
haben?«...« sagte sie mit der Lebhaftigkeit einer Kreolin.
»Morgen,« bemerkte Herr Bernard, »das wäre sehr schnell, und morgen ist Sonntag.«
»Ach! ...« sagte sie und sah Gottfried an, der ihre Seele umherflattern zu sehen meinte, während er die überall hin gerichteten Blicke Wandas anstaunte.
Bisher hatte Gottfried noch nicht gewußt, welche Macht der Stimme und den Augen innewohnt, wenn sich das ganze Leben in ihnen konzentriert. Ihr Blick war kein Blick mehr, sondern eine Flamme oder, besser gesagt, ein göttliches Auflodern, ein sich mitteilender Strahl von Leben und Intelligenz, der sichtbar gewordene Gedanke! Diese Stimme mit ihren tausend Nuancen ersetzte die Bewegungen, die Gesten und die Haltung des Kopfes. Die Veränderung ihres Teints, der seine Farbe wechselte wie das sagenhafte Chamäleon, machte diese Illussion oder, wenn man will, dieses Wunder vollständig. Das in die batistenen, mit Spitzen garnierten Kissen vergrabene Haupt war eine ganze Person.
In seinem ganzen Leben hatte Gottfried niemals ein so großartiges Schauspiel vor Augen gehabt, und er konnte seine Erregung kaum bewältigen. Dazu kam noch eine andere erhabene Wirkung! Denn die ganze Situation war so eigenartig, so poetisch und so grauenhaft, daß bei den Zuschauern nur noch die Seele lebendig war. Die nur von Empfindung gespeiste Atmosphäre übte einen wunderbaren Einfluß auf sie aus. Sie fühlten ihren Körper ebenso wenig wie die Kranke. Alle empfanden sich nur als geistig. Wenn er diesen dürftigen Überrest einer hübschen Frau betrachtete, vergaß Gottfried die tausend eleganten Details dieses Zimmers und fühlte sich wie im Freien. Erst nach Verlauf einer halben Stunde bemerkte er eine mit Kuriositäten besetzte Etagere, die unterhalb eines herrlichen Porträts angebracht war, das ihn die Kranke zu betrachten bat; denn es war von Géricault.
»Géricault«, sagte sie, »stammte aus Rouen, und da seine Familie meinem Vater, dem ersten Präsidenten, verpflichtet war, so stattete er uns seinen Dank mit diesem Meisterwerke ab, das mich im Alter von sechzehn Jahren darstellt.«
»Sie besitzen da ein sehr schönes Bild,« sagte Gottfried, »das denen, die sich mit den so seltenen Werken dieses Genies beschäftigt haben, völlig unbekannt ist.«
»Für mich«, entgegnete sie, »hat es nur als Zeichen der Freundschaft Bedeutung, ich lebe ja nur mit dem Herzen, und ich führe das schönste Leben,« fügte sie hinzu, sah ihren Vater an und legte ihre ganze Seele in diesen Blick. »Ach, mein Herr, wenn Sie wüßten, was ich für einen Vater habe! Wer hätte jemals geglaubt, daß dieser hohe strenge Beamte, dem sich der Kaiser so sehr verpflichtet fühlte, daß er ihm diese Tabaksdose schenkte, und den Karl X. mit jenem Sèvresgeschirr belohnen zu müssen glaubte, das dort,« sagte sie und zeigte auf die Konsole, »daß diese feste Stütze von Thron und Regierung, dieser gelehrte Publizist, in seinem Herzen von Eisen die Zartheit einer Mutter besäße. Oh, Papa, Papa, küsse mich!... Komm! Ich verlange es, wenn du mich lieb hast.«
Der Greis erhob sich, neigte sich über das Bett und drückte einen Kuß auf die große, weiße, von poetischen Gedanken erfüllte Stirn seiner Tochter, deren krankhafte Einfälle nicht immer diesem Ausbruch von Zärtlichkeit glichen.
Dann ging er im Zimmer auf und ab in von seiner Tochter geflickten Pantoffeln, ohne das geringste Geräusch zu machen.
»Und womit beschäftigen Sie sich?« fragte sie Gottfried nach einer Pause.
»Ich bin von frommen Leuten angestellt, gnädige Frau, um sehr unglücklichen Menschen Hilfe zu bringen.«
»Ach, was für ein schöner Beruf, mein Herr!« sagte sie. »Würden Sie glauben, daß auch ich die Absicht hatte, mich ihm zu widmen?... Aber was für Pläne habe ich nicht schon geschmiedet!« fuhr sie kopfschüttelnd fort. »Der Schmerz ist wie eine Fackel, die uns den Lebensweg erhellt... Ach, wenn ich doch wieder gesund würde!«
»Dann würdest du dir Vergnügungen gönnen, mein Kind«, sagte der Alte.
»Gewiß,« entgegnete sie, »ich sehne mich danach, aber werde ich es auch können? Mein Sohn wird, so hoffe ich, ein seiner beiden Großväter würdiger Beamter werden, und er wird mich verlassen. Was soll ich tun?... Wenn Gott mir das Leben wiederschenken sollte, werde ich es ihm weihen! Oh, aber erst, wenn ich euch alles vergolten haben werde, was ihr an mir getan habt!« rief sie und sah ihren Vater und ihren Sohn an. »Es gibt Augenblicke, lieber
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