Kein Augenblick zu früh (German Edition)
in den fünften Stock. Wenigstens wurde ich nicht in die Untergeschosse befördert, wo sich die Gefangenenzellen befanden. Obwohl ich dort vielleicht meine Mutter zu sehen bekommen hätte, wie ich mir schuldbewusst klarmachte. Neun Stockwerke trennten uns, doch es hätten genauso gut neun Galaxien sein können, so unmöglich schien es mir, zu ihr zu gelangen.
Mein Wächter führte mich durch einen Flur in einen Raum mit Fenstern an beiden Längsseiten und einem riesigen ovalen Konferenztisch in der Mitte. Am anderen Ende des Raums stand ein Mann in grauem Anzug, den Rücken zu mir, und blickte aus dem Fenster.
Die Tür schloss sich mit einem sanftem Klick. Ich wirbelte herum. Mein Wärter war verschwunden. Langsam drehte ich mich wieder um. Der Mann hatte sich umgewandt und betrachtete mich abschätzend. Er war vielleicht Ende fünfzig, gut über einen Meter achtzig groß, hatte stahlgraues Haar und die gebräunte Haut eines Menschen, der die Wochenenden auf seiner Jacht auf den Bahamas verbringt. Er kam mir vage bekannt vor. Ich studierte die Erscheinung von unten bis oben und versuchte, ihn einzuordnen. Der durchdringende Blick der kalten blauen Augen und die arrogante Körperhaltung erinnerten mich an jemanden. Er kam mir nicht wie ein Arzt vor. Auch nicht wie ein Soldat.
Mir verschlug es den Atem, als mir klar wurde, wer er war. Er sah genau so aus, wie ich mir den Boss eines milliardenschweren Unternehmens vorgestellt hatte.
»Miss Loveday – danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Er kam auf mich zu.
Richard Stirling, Rachels Vater. Der Mann, der hinter allem steckte. Der Mann, der für den angeblichen Tod meiner Mutter verantwortlich war. Der Mann, der all die Experimente angeordnet hatte. Dieser Mann kam hier mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Erwartete, dass ich sie ergriff und schüttelte. Sämtliche Muskeln meines Körpers verkrampften sich, als ich den Zwang zu unterdrücken versuchte, ihn zu packen und durch ein Fenster zu schleudern.
»Es blieb mir nichts anderes übrig«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Er runzelte die Stirn, fing sich aber rasch wieder und nickte entschuldigend. »Ach ja, die Jungs von der Einheit sind nicht sonderlich feinfühlig, fürchte ich. Es würde mir sehr leidtun, wenn meine Bitte um ein Gespräch Sie erschreckt hätte.«
Ich musste mich zusammenreißen, musste mich besser benehmen. Musste nur das Spiel spielen, wie Alex es nannte – diesen Mann benutzen, um weitere Informationen zu sammeln. Aber im Moment konnte ich mein Gehirn nicht dazu bringen, strategisch zu denken. Es war voll und ganz mit einem einzigen Gedanken beschäftigt, nämlich, wie liebend gern ich diesen Mann umgebracht hätte. Doch schließlich holte ich tief Luft und rang mir sogar ein Lächeln ab. »Nein, kein Problem. Ich wollte nur Jack nicht allein zurücklassen, das ist alles.«
»Ja, natürlich, das kann ich gut verstehen. Nun, danke, dass Sie gekommen sind. Ich werde mich kurz fassen. Bitte setzen Sie sich doch.« Er rückte mir einen Stuhl am Tisch zurecht.
Ich zögerte, dann ließ ich mich auf die Stuhlkante sinken.
Er blieb stehen. »Es geht um meine Tochter. Soweit ich informiert bin, waren Sie eine der letzten Personen, die sie gesehen hat?«
»Ja.« Ich hielt seinem Blick stand, hoffte aber, dass er den Hass nicht bemerkte, der zweifellos in meinen Augen loderte.
»Könnten Sie mir bitte erzählen, was dabei geschah?«
»Äh … das habe ich doch schon Sara und dem Arzt gesagt«, stammelte ich, während ich in meiner Erinnerung nach den Lügen suchte, die ich den beiden aufgetischt hatte.
»Das weiß ich. Ich habe den Bericht gelesen.« Er lächelte mich an, aber sein Blick blieb kalt. »Danke für all die Informationen, sie waren ausgesprochen hilfreich. Ich frage mich nur, ob Ihnen in der Zwischenzeit noch etwas eingefallen ist?«
Äh, zum Beispiel, dass Ihre Tochter hübsch verschnürt und geknebelt in einem Hotelzimmer in Mexico City verwahrt wird? Oder dass ich Sie, Mr Stirling, eines Tages umbringen werde?
»Nein«, sagte ich laut. »Tut mir leid.«
Er kniff ganz leicht die Augen zusammen. »Sie haben also keine Ahnung, wohin sie Rachel gebracht haben oder was sie von ihr wollen?«
»Tut mir leid, aber ich weiß es wirklich nicht.«
Wieder betrachtete er mich durchdringend und ein bisschen überrascht. Offenbar war er es nicht gewohnt, keine hilfreichen Antworten zu erhalten. Er trat einen Schritt näher und lehnte sich neben
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