Kein Blick zurueck
Tisch in der Nähe des vorderen Fensters niederließ.
Sie schrieb Ansichtskarten an ihre Kinder und übersetzte, bis die ersten Gäste kamen. Manchmal setzte sich einer der neuen Freunde auf ein Schwätzchen für ein paar Minuten zu ihr, doch meistens tranken die Stammgäste ihren Kaffee hinter ihrer Zeitung. Erst wenn um die Mittagszeit die Dichter und Schriftsteller erschienen, füllte sich das Café mit Gelächter, Debatten und Ideen.
Else kam gegen zwei und setzte sich an ihren Tisch in der hinteren Ecke, wo sie Hof hielt, wenn sie nicht schrieb. An den meisten Tagen hatte sie ihren Sohn dabei, Paul, einen vierjährigen Jungen, der zufrieden schien, ihr gegenüber ein Malbuch auszumalen. Mamah war vom Anblick der beiden, die die Köpfe zusammensteckten, gerührt.
»Er hat sie verlassen«, sagte die Frau namens Hedwig eines Nachmittags zu Mamah und sah zu Else hinüber.
»Herwarth?«
»Ja, er ist ausgezogen. Es gibt eine Schwedin, munkelt man.« Mamah fühlte sich beinahe ins Herz getroffen von dieser Bemerkung.
»Herwarth war gut zu dem Jungen, aber eigentlich hat er keinerlei Verpflichtung. Er ist nicht sein Vater«, sagte Hedwig. »Else behauptet, der Vater sei ein Scheich oder so was.« Als Mamah wieder zu ihr hinsah, schmerzte sie der Anblick der gebeutelten kleinen Gesellschaft in der Ecke.
Im Laufe des Nachmittags überhörte sie die Gespräche der Menschen um sich herum. Liebermann, Kokoschka, Franz Marc, Kandinsky – die Namen rollten ihnen von der Zunge wie eine Litanei von Heiligen der Sezession. Als es allmählich dunkel wurde, ging Red durch das Café und zündete die Kerzen an. »Die Welt verändert sich«, sagte jemand. »Das tut sie, das tut sie«, stimmten die anderen zu.
Im Raum stand blauer Qualm, und gegen vier pulsierte er vor Erregung, als die Leute anfingen, Wein und Bier zu bestellen.Sie sprachen über den italienischen Futurismus, über Gaudí in Barcelona, über Mathematik als »die Art und Weise, wie Gott denkt«. Sie unterhielten sich darüber, wer mit wem schlief, über Politik, den Krieg, Magie, den Sozialismus.
Eines Abends gesellte Mamah sich an einen Tisch, an dem Else gerade einigen Künstlern gegenüber ihre Meinung kundtat. »Es ist eure heilige Pflicht«, sagte sie hitzig. Ihr Sohn war nirgendwo zu sehen. »Den Akt der Schöpfung dort weiterzuführen, wo Gott am letzten Tag aufgehört hat. Die geheime Sprache der Natur zu entschlüsseln. Ich glaube tatsächlich, dass jedes Mal, wenn ich tief genug schürfe, um ein Klümpchen Wahrheit oder Schönheit zutage zu fördern, Gott sich meiner bedient.« Else blickte sich unter ihren Tischgenossen um. »Künstler können die Welt erlösen. Aber wir dürfen nicht zögern, liebe Freunde. Ihr und ich, nicht die Generäle, sind die Rettung dieses Landes.«
Mamah sog mit Vergnügen die Worte, die Kameradschaft um sich herum in sich auf. Sie trank zwei Gläser Wein an diesem Abend, dann noch eines, und hatte das Gefühl, sich noch nie unter einer Gruppe von Menschen so wohl gefühlt zu haben. Genau wie sie waren auch jene von einem Ort nach Berlin gekommen, an dem sie das Gefühl gehabt hatten, nicht dazuzugehören.
In der Nacht, bevor Mamah wieder zur Arbeit gehen sollte, hüllte ein Schneesturm Berlin in ein weißes Gewand. Sie erwachte zu der Nachricht, dass in ganzen Stadtbezirken der Strom ausgefallen war und dass ihre Schule an diesem Tag geschlossen blieb. Sie zog sich warm an und ging zum Zeitungskiosk. Mit der Zeitung unter dem Arm ging sie weiter zum Postamt, das geöffnet hatte, auch wenn es gespenstisch leer war. In ihrem Postfach wartete ein einzelner Umschlag auf sie. Der Briefkopf war der einer Anwaltskanzlei aus Chicago,von der sie wusste, dass Wagner Electric deren Dienste nutzte. Darin fand sie, was sie erwartet hatte. Edwin Cheney klagte gegen Mamah Borthwick Cheney auf Scheidung. Grund der Klage: Verlassen.
Sie steckte den Brief in ihre Handtasche und kehrte zurück in ihre Pension. Es erschien ihr nicht ganz real, dass gerade ein großes Stück ihrer Zukunft Gestalt annahm. Sie wollte es Else erzählen, doch als Mamah ihren Blick durch das Café schweifen ließ, sah sie, dass nur ein einziger Gast dort saß. Sie setzte sich an ihren Tisch neben dem Fenster und starrte auf die Straße hinaus.
»Ich mag einen ordentlichen Schneesturm«, sagte Red, als er ihr die Zeitung und eine Tasse Kaffee brachte. »Er bringt die Menschen augenblicklich zum Stillstand.« Auf dem oberen Rand der Titelseite fiel ihr Blick
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