Kein Blick zurueck
Mundes tief herabgezogen.
»Ich kenne Sie«, sagte Mamah.
»Viele Leute kennen mich.«
»Sie haben mir damals geholfen – das einzige Mal, als ich zuvor in diesem Café war. Ich hatte gerade die Nachricht erhalten, dass meine Freundin gestorben war, und…«
Die Frau trat einen Schritt zurück und starrte Mamah an. »Und Sie sind zusammengebrochen, ja. Und ich fragte mich, was mit Ihnen geschehen war. Sie weinten und weinten.« Sie legte den Arm um Mamah und tätschelte ihre Schulter. »Vielen Dank für damals«, sagte Mamah. »Ich weiß nicht, ob ich das seinerzeit gesagt habe.«
Die Frau zog ein Zigarettenpäckchen unter ihrem Muschelgürtel hervor. Sie klopfte den Inhalt auf ihrer Handfläche aus – zwei Zigaretten und ein Schokoladenkeks. »Suchen Sie sich etwas aus«, sagte sie.
Mamah nahm sich eine Zigarette.
»Nennen Sie mich Else.« Sie zündete ein Streichholz an. »Was hat eine gut gekleidete Amerikanerin am Weihnachtsabend allein auf den Berliner Straßen zu suchen? Sie sehen nicht aus wie die anderen Streuner, die wir hier im Café Megalomania zu sehen bekommen.«
»Mein Name ist Mamah Borthwick.«
»Sie sprechen sehr gut deutsch, Mamah Borthwick.«
»Danke. Ich bin hier, um für eine Weile Sprachen zu lernen – Schwedisch eigentlich. Ich bin die amerikanische Übersetzerin von Ellen Key.« Mamah bereute sofort das Anmaßende dieser Bemerkung. »Ich warte hier, bis ich von meinem Mann geschieden werden kann.« Jetzt bereute sie, so viel persönliche Information preisgegeben zu haben.
»Nun.« Else hob die Augenbrauen und schnippte einen Tabakbrösel von ihrem Finger. »Woher kommen Sie?«
»Aus Chicago.«
»Chicago! Ich habe dort eine Schwester!«
Else nahm sie bei der Hand und führte sie zurück an den Tisch. »Liebste Modernisten«, wandte sie sich an die Gruppe, »wir haben hier eine neue Freundin. Das ist Mamah Borthwick aus Chicago. Sie ist die englische Übersetzerin von Ellen Key.«
»Auf freien Sex!«, rief eine der Frauen und hob ihr Glas.
»Das hier sind meine Spielkameraden.« Else ging um den Tisch herum. »Hedwig, Minn, der Krieger, Lucretia Borzia, der kleine Kurt, Martha, die Hexe, und Caius-Maius, der Kaiser.« Sie hielt inne. »Und mein Mann, den Sie offensichtlich bereits kennengelernt haben.«
»Lass sie ihren Fasan essen«, sagte Herwarth mit säuerlicher Stimme. »Er ist schon kalt geworden.«
Else zog einen Stuhl neben den Mamahs. »Oh, ich mag kalten Fasan«, sagte sie.
Während sie sich den Teller teilten, hörte Mamah zu, wie die Gruppe sich darüber unterhielt, welche Künstler wohl in Herwarths Galerie ihre Arbeiten zeigen würden, wenn sie demnächst eröffnete. Mamah hatte von einigen gehört und von anderen Bilder gesehen. Wie es schien, war Herwarth außerdem der Herausgeber von Der Sturm . Sie hatte die Wochenzeitschrift ein paarmal gelesen, in der er sich mit dem Kaiser wegen dessen vorsintflutlichem Kunstgeschmack herumstritt. Während Mamah die Unterhaltung ihrer Tischgenossen verfolgte, ging ihr auf, dass sie sich unmittelbar im Zentrum der deutschen Modernistenbewegung befand.
»Langweilt Sie dieses Gerede?«, fragte Else nach einiger Zeit.
»Ganz und gar nicht. Ich interessiere mich sehr für moderne Kunst.«
»Dann sind Sie hier am richtigen Ort. Modernisten, Expressionisten, Sezessionisten. Kubisten. Berlin ist voller ›-isten‹. Schriftsteller und Maler kommen hier zusammen und befruchten einander gegenseitig. Buchstäblich.« Sie wies mit dem Kopf auf ein Paar in der Ecke, wo der Mann die Hand der hübschen jungen Frau hielt wie ein Vögelchen. »Wahrscheinlich verführt er sie gerade mit Steiner-Zitaten.«
Mamah ließ sich auf ihrem Stuhl zurückfallen und lachte. »Ah, was für eine Erleichterung.«
»Wie bitte?«
»Zu lachen. Unter respektlosen Menschen zu sein. Wo ich herkomme, ist das ganz anders.«
»Ist Chicago nicht kosmopolitisch?«
»Ich spreche von dem Dorf in der Nähe Chicagos, aus dem ich komme. Und ja, es gibt in Chicago Künstler, die derselben Meinung sind wie diese Leute hier, dass die Kunst die Welt retten werde. Dort drüben sind die Architekten die Modernisten. Sie nennen sich die ›Chicago School‹. Sie zaubern Gebäude, deren Anblick Ihnen den Atem verschlägt. Der Beste unter ihnen ist Frank Lloyd Wright.«
Die Dichterin maß sie mit Blicken. »Ist er wie Olbrich oder Adolf Loos?«
»Er ist wie niemand sonst.«
Else fragte sie aus. Stück um Stück gab Mamah die Wahrheit preis, erleichtert, sich
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