Kein Blick zurueck
jemandem mitzuteilen, der nicht den Stab über sie brach.
Als sie zwei Tage später wieder in das Café kam, wählte Mamah einen Tisch in der Nähe des Fensters. Sie sah zu der Ecke hin, wo zwei der Männer, die sie am Weihnachtsabend kennengelernt hatte, sich über ein Kartenspiel beugten. Als sie sie erkannten, nickten sie ihr zu. Der Kellner mit dem kupferfarbenen Haar brachte ihr den Tee und reichte ihr dann mit einer freundlichen kleinen Verbeugung eine Ausgabe von Der Sturm .
War es Einbildung, oder hatte sich in diesen zwei Tagen tatsächlich etwas verändert? Denn sie spürte durchaus einen Unterschied. Sogar Menschen, die neu zur Tür hereinkamen, grüßten sie jetzt.
Sie vermutete, dass Elses unvermittelte Freundschaft ihr unter den Künstlern den Stempel »für gut befunden« eingetragen hatte. Mamah amüsierte sich darüber. Zu Hause in Chicago hatte kein Mensch je von Ellen Key gehört. Ihr Name hätte Mamah nicht einmal zu einer Tasse Kaffee verholfen. Hier im Café des Westens war sie ihr Freifahrschein. Draußen vor dem Fenster promenierten Hunderte von BüromädchenArm in Arm. Inmitten der Menge schritten Offiziere mit Schulterstücken vorbei, zu Fabrikarbeitern gewordene Bauernjungen mit frischen Gesichtern und Henkelmännern, Geschäftsmänner mit Homburg-Hüten, graubezopfte, schwarzgekleidete Großmütter, Krankenschwestern, Ladenmädchen, Gesellschaftsdamen auf dem Weg zum Tee. Und dann löste sich eine Frau, ungleich allen anderen, aus der Menge und betrat das Café.
»Du setzt dich in dieses Café, und der Teufel hat dich am Wickel.« Else schnaubte, als sie sich Mamah gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ. Sie trug einen purpurfarbenen Umhang. Darauf festgesteckt waren Kameebroschen, die winzige Gesichter zeigten.
»Ihre Familie?«, fragte Mamah und deutete auf das Bild eines altmodischen Paars.
»O nein. Ich habe sie im Pfandhaus entdeckt. Sie haben alle darum gebettelt, dort wegzukommen.« Else bestellte sich einen Kaffee, und als er gebracht wurde, sagte sie: »Ich komme von einem Dorf wie das Ihre. Ich war mit einem Arzt verheiratet.« Sie hielt die Kaffeetasse an ihre Wange, um sich zu wärmen. »Ich hatte feines Porzellan. Hübsche Teppiche auf dem Fußboden.« Die ernsten, braunen Augen waren golden gesprenkelt. »Eines Tages wachte ich auf und dachte, Was hast du nur aus deinen Begabungen gemacht? Du hast sie gegen Möbel eingetauscht. « Sie hielt sich die Tasse an die andere Wange. »Wie Sie sehen, habe ich mich einer anderen Sippe angeschlossen. Heute habe ich übrigens so gut wie keine Möbel mehr. Ich habe Schulden beim Vormittagskellner und Schulden beim Mitternachtskellner, und ich frage mich, wie ich die Miete bezahlen soll, jetzt wo Herwarth weggeht. Und doch…« Ihre Stimme verlor sich.
»Wohin geht Ihr Mann?«
Else stellte die Tasse ab und sah woanders hin. Als sie sichwieder umdrehte, waren ihre Augen schmal. »So viel weiß ich von Ihnen, Mamah Borthwick aus Chicago. Sie sind die Übersetzerin von Ellen Keys philosophischen Schriften. Einem künstlerischen Liebhaber zuliebe haben Sie ihren Mann verlassen. Und dennoch leben Sie hier in Berlin mitten im Bürgertum. Sie sind mir ein Rätsel.«
Mamah versteifte sich, als hätte sie gerade jemanden dabei ertappt, der ihre Schubladen durchwühlte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Zimmer ist das billigste in der Pension«, sagte sie.
»Sie müssen sich nicht verteidigen.«
Mamah wurde verlegen. »Ich bewundere die Art, wie Sie sich durch Ihr Leben bewegen. Ihnen scheint egal zu sein, ob andere sie missbilligen oder nicht.«
Else zuckte die Schultern. »Wir alle haben unsere kleinen inneren Kämpfe auszufechten.« Der Gedanke schien etwas in ihr auszulösen, denn sie sprang von ihrem Stuhl auf. »Es gibt einiges zu tun«, sagte sie und trat an ihren eigenen Tisch. Sie zog ein Notizbuch aus der Tasche und fing an zu schreiben.
In der darauffolgenden Ferienwoche kehrte Mamah jeden Tag in das Café zurück. Sie liebte den morgendlichen Kaffeeduft, und das Aroma des Kaffees enttäuschte sie nicht. Der Raum war beinahe leer, wenn sie kam, und das harte Licht offenbarte ungeschminkt das Chaos. Die Kaiserbüste balancierte immer noch beschwipst auf der arg lädierten Telefonkabine. Die Plakate an den mit Fingerabdrücken verschmierten Wänden rollten sich an den Ecken. Doch die Ringe von den Biergläsern auf den runden Marmortischplatten waren abgewischt, wenn Mamah sich morgens um acht zufrieden an einem
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