Kein Blick zurueck
Wind. Seit dem letzten Eis waren sie geknickt und steif gefroren. Sie setzte ihre Brille auf und blickte prüfend auf dieLandschaft. Wo waren die Hasen, die sie im vergangenen Herbst scharenweise gesehen hatte? Hockten vermutlich in ihrem Bau und träumten, dachte sie.
Von ihrem Schreibtisch aus hatte sie eine klare Sicht nach Süden und Westen; sie konnte sehen, wer kam und wer ging. Derzeit waren es nur die Arbeiter oder Jennies Familie. Doch es war hilfreich, eine so weite Aussicht zu haben. Sie dachte wieder an die festungsähnlichen Häuser in der Umgebung von Siena, die so gelegen waren, dass kein Feind sich ihnen ungesehen nähern konnte.
Hatte Frank vermutet, dass sie unter Belagerung geraten würden? Hatte er sich Taliesin als eine Art Festung vorgestellt? Der Gedanke schien so ganz im Widerspruch zu stehen zu der Offenheit des Hauses. Als er vor einem Jahr, voller Leidenschaft für den Bau Taliesins, in Berlin aufgetaucht war, hatte er bereits etwas begriffen, das sie damals noch nicht verstanden hatte. Er hatte eine Dosis des erbitterten Hasses zu spüren bekommen, den einige für ihn empfanden. Kein Wunder, dass er so beharrlich darauf bestanden hatte, auf der Stelle mit dem Bau zu beginnen. Die Grausamkeit der letzten zwei Monate hatte er unmöglich vorhersehen können. Dennoch hatte er sich vorbereitet.
Wenigstens haben wir es jetzt warm, dachte sie. Das war eine bedeutende Verbesserung. Sogar ein wahres Geschenk. Wärme war etwas, das die Menschen als selbstverständlich voraussetzten, bis es sie plötzlich nicht gab. Was benötigte ein Mensch zum Überleben? Essen. Wasser. Schutz. Wärme bei kaltem Wetter. Diese Dinge halfen ihnen beiden bei der Heilung.
Und noch etwas – Bücher. Im Januar hatte Frank Josiah beauftragt, für Mamahs Arbeitszimmer Bücherregale zu zimmern. Der junge Mann war zwar irgendwo anders beschäftigt, doch an den Abenden und an den Wochenenden warer nach Taliesin herausgekommen, um die Regale anzufertigen. Sie hatte ihre Bücher ausgepackt, hatte sie entstaubt und nach Sachthemen und Autoren auf den schönen neuen Regalen angeordnet, während sie die ganze Zeit daran dachte, welche Bände sie noch kaufen könnte, wenn sie wieder ein wenig Geld hätte. Sie reihte ihre Tagebücher auf, die dicht an dicht, Seite für Seite mit Gedanken und Zitaten vollgeschrieben waren, und voller Zettel, auf denen sie sich noch weitere Gedanken und Zitate notiert hatte. Sie hatte kaum Zeit gehabt, einen Blick in die Zeitschriften zu werfen, die sie abonniert hatte und die im vergangenen halben Jahr an die Adresse von Franks Schwester Jennie geschickt worden waren. Jetzt lagen sie säuberlich in einem Korb gestapelt – sechs Monate an Gedanken über Frauenthemen, dazu Kurzgeschichten, die darauf warteten, genüsslich gekostet zu werden wie teure Schokolade.
Es war so gut wie kein Geld da. Doch das Vergnügen, sich in der Gesellschaft der goldbeschrifteten Bücherrücken mit den Werken George Eliots, Ibsens, Shakespeares, Platos, Emersons, Freuds und Emma Goldmans zu befinden, verschaffte ihr eine gewisse Erleichterung.
Auch Frank hatte für sich eine Erleichterung gefunden. Wenn er nicht in Chicago war, war er bei ihr in Taliesin, doch seine Gedanken weilten irgendwo in der Gegend hinter Kyoto und wanderten über die Brücken und die schneebedeckten Berge der Landschaften Hiroshiges. Er ging zum Tresor, nahm die Holzschnitte heraus und betrachtete sie in seinem Studio, und von Zeit zu Zeit stand er auf, um das Grammofon aufzuziehen und der strukturierten Klarheit Mozarts oder Bachs zu lauschen. Die Holzschnitte und die Musik wirkten wohltuender auf ihn als jedes Nervenmittel.
»Du solltest etwas über japanische Kunst schreiben«, sagte sie eines Abends zu ihm. Wie so oft saßen sie vor dem Kamin.Sein Stammplatz war ein Morris-Sessel mit breiten, flachen Armlehnen; ihrer war etwas kleiner, und die Rücken- und Armlehnen waren mit weinrotem Samt gepolstert. »Inzwischen bist du Experte«, fuhr sie fort. »Es ist eine Möglichkeit, andere Menschen zu informieren. Vielleicht wirst du nie wieder Zeit dafür haben.«
Er strich sich über die einen Tag alten Bartstoppeln auf seinem Kinn und überlegte. Sein Profil erinnerte sie an eine ausdrucksvolle Beethoven-Büste – die feine Nase und der feine Mund, die nachdenkliche Stirn und darüber die Mähne aus langem, zurückgekämmtem Haar. In den acht Jahren, seit sie ihn kannte, war er immer attraktiver geworden, und sein immer stärker
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