Kein Blick zurueck
in den Mund gelegt.«
»Woher weißt du das?«
»Spricht er so?«
Sie sah ihn angsterfüllt an. »Nein, aber einiges davon stimmt. Der Name der Holmes-Schule.«
Mamah las einen Abschnitt nach dem anderen. KINDER VERHÖHNEN DIE KLEINEN CHENEYS. CHENEY-KINDER GEWINNEN LIEBE IHRER TANTE. »Sie haben mit Lizzie gesprochen«, sagte sie.
»Jetzt weiß ich, dass es erfunden ist«, sagte Frank. »Sie hat noch nie mit jemandem gesprochen.«
»Lies das.« Mamah deutete auf einen Abschnitt auf der zweiten Seite, wo mitten auf der Seite erneut ihr Porträt prangte.
MAMAH WAR EIN HOCHBEGABTES KIND
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»Es gibt eigentlich nichts zu sagen«, erklärte Miss Borthwick. »Ich habe meine Schwester großgezogen, ich liebe sie immer noch – ich könnte gar nicht anders; niemand könnte das, denn jeder, der sie kennt, liebt sie. Und ich werde an ihren Kindern Mutterstelle vertreten. Mr. Cheney hat gegen seine frühere Frau nie ein böses Wort geäußert, nicht einmal im engsten Freundeskreis, und wenn er sie nicht verdammt, warum sollte ich es tun?
Mamah war immer sehr begabt, selbst als Kleinkind, und beherrschte in einem Alter drei Sprachen, in dem manche Kinder selbst in ihrer eigenen Sprache kaum einen korrekten Satz bilden können. Ich habe an der Schule unterrichtet und ihr die Ausbildung in Ann Arbor ermöglicht.«
Frank blickte auf. »Ist das wahr?«
»Ja«, sagte Mamah und grub ihre Finger ins Fleisch.
»Sie hat ihren Abschluss an der dortigen Universität mit Auszeichnung bestanden. Später wurde Mamah Bibliothekarin in Port Huron. Sie wurde nicht nur als sehr begabt angesehen, sondern auch als eine der belesensten Frauen Amerikas und als tüchtige Bibliothekarin. Doch dazu gibt es weiter nichts zu sagen.
Alles, was ich tun kann, ist, die Rolle der Frau zu übernehmen – das heißt, meine Pflicht zu tun und den kleinen Jungen und das kleine Mädchen meiner unglücklichen, fehlgeleiteten Schwester zu lieben und für beide zu sorgen und ihnen zu helfen, die tiefe Lücke zu schließen, die sowohl für Mr. Cheney als auch für die Kinder durch die Abwesenheit ihrer Mutter entstanden ist.«
»Worte, die man ihr in den Mund gelegt hat«, sagte Frank. »Lies nicht weiter.«
Er versuchte, ihr die Zeitung wegzunehmen, doch Mamah hielt sie fest. Einen Augenblick lang kam es zu einem wütenden Gezerre, bis Frank schließlich aufgab. Seufzend ging er zurück ins Wohnzimmer, während sie die schreckliche Geschichte wieder und wieder las.
Nein, Lizzie redete nicht so. Doch einige Abschnitte handelten von Dingen, die nur Lizzie und ein paar wenige andere Menschen wussten. Drei Sprachen schon im Kindergarten. Dass Lizzie geholfen hatte, Mamahs Studium zu finanzieren. Und der Kommentar über die Belesenheit. Was fehlte, war die vertraute Bemerkung, die Lizzie immer hinzugefügt hatte: »Und warum kannst du dich nicht mehr erinnern, wo du deine Brille hingelegt hast?«
Mamah stand auf und hantierte an der Spüle scheppernd mit den Töpfen. Sie konnte sich den Hohn vorstellen, den die Kinder auszustehen hatten. Seine Mutter auf der Titelseite als Hure porträtiert zu sehen war für John das Grausamste gewesen, was sie sich vorstellen konnte. Kinder auf dem Spielplatz konnten abscheulich sein. Was wog ihr eigener Schmerz, verglichen mit dem, was John, Martha und Jessie auszustehen hatten?
Wenn sie in diesem Moment gekonnt hätte, hätte sie eines der Gewehre der Arbeiter genommen und den Reporter erschossen, der John aufgelauert hatte, um Salz in seine Wunden zu streuen.
Sie erinnerte sich an eine Situation in Kanada, als sie versucht hatte, John zu erklären, was Scheidung bedeutete. Er hatte sich aus ihren Armen gewunden und war zum Spielen davongeschlüpft. So war es mit Kindern. Selbst wenn John genickt hätte, selbst wenn er gesagt hätte, dass er verstand, hätte er es doch nicht verstanden. Er ist neun Jahre alt , dachte sie. Was er kennt, ist nur dieses Gefühl in ihm, diese schreckliche Sehnsucht. Was konnte das Wort »Scheidung« für einen so kleinen Jungen wirklich bedeuten? Oder für Martha? Das Bild des Mädchens, das wartete, hoffte, glaubte, war für Mamah entsetzlich. Was musste Martha zu ertragen haben?
Am liebsten wäre sie in den nächsten Zug gesprungen und hätte ihre Kinder in die Arme geschlossen. Sie wollte Martha und Jessie wieder und wieder sagen, dass alles wieder in Ordnung käme. Sie sehnte sich verzweifelt danach, Johns warmen, mageren Körper zu spüren, ihm über den Kopf zu streicheln und
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