Kein Blick zurueck
ihn wissen zu lassen, dass er ihr alles bedeutete, mehr als alles auf der Welt.
Mamah stand am Küchenfenster und schaute abschätzend auf die Einfahrt. Sie war spiegelglatt. Der Wagen würde sicher nicht anspringen. Es war zu kalt und zu vereist für den Versuch, eine ordentliche Entfernung zu Pferd zurückzulegen.
Doch falls sie ginge, falls sie einen Weg fände, dorthin zu gelangen, wem würde sie damit einen Dienst erweisen?
Nur mir selbst.
In diesem Augenblick begriff sie etwas Neues. Dass der größte Beweis für ihre Liebe darin bestand, sie in Ruhe zu lassen. Nach Oak Park zurückzulaufen würde nur bedeuten,dass auch sie Salz in ihre Wunden streute, denn wenn dieses Treffen vorbei wäre, würde sie wieder wegfahren. Was sie jetzt zu ihrer Heilung brauchten, war Distanz zu ihr und dem gesamten Drama. Sie brauchten eine normale Umgebung und die stetige, gegenwärtige Liebe Edwins und Louises und Lizzies. Und Elinor Millors.
Mamah erkannte in diesem Moment sehr klar, was sie verloren hatte. Die alltäglichen kleinen Liebesdienste, die sie früher mit ihren Kindern verbunden hatten – das Schnürsenkelbinden, das Haarekämmen, das abendliche Geschichtenerzählen –, standen ihr nicht mehr länger zu. Wie könnte sie es wagen, bei ihnen den Trost zu suchen, der sie einmal so sehr genährt hatte? Ihre Sehnsucht nach einer Mutter lebendig zu halten, die kaum mit ihnen zusammen war, weil sie sich aus freien Stücken so entschieden hatte, würde bedeuten, sie zu einem ganzen Leben voller Kummer zu verurteilen.
Was sie tun musste, war, ihnen ein Gefühl der Privatheit zu sichern, damit sie allmählich lernen konnten zu akzeptieren, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würde. Sie würde sich ihnen nicht persönlich aufdrängen. Jetzt zu ihnen zu fahren, um sie zu sehen, würde, selbst wenn sie es könnte, bedeuten, ihnen aufs Neue die Presse auf den Hals zu hetzen.
Stattdessen würde sie ihnen schreiben und ihre Liebe in diese Briefe einfließen lassen. Sie könnte sie um Verzeihung bitten. Sie könnte noch einmal versuchen, sich zu erklären. Worte auf Papier überdauerten länger, als wenn sie ins Ohr eines Kindes gesprochen wurden. Eines Tages , betete sie, eines Tages, wenn sie erwachsen sind, lass sie mich verstehen .
Kapitel 40
Mamah saß in ihrem Arbeitszimmer und hatte die neue Übersetzung des Gedichts Taliesin auf den Knien. Sie hatte das Buch vor Monaten als Weihnachtsgeschenk für Frank bestellt. Doch es war erst gestern eingetroffen, und die Erinnerung an Weihnachten war so bedrückend, dass sie lieber nicht daran denken wollte.
Es war Februar, und doch fühlten sie beide sich immer noch verletzlich wie eine kaum verheilte Wunde. Frank hatte recht gehabt. Kunden und Interessenten waren im Zuge der Zeitungsberichte von ihm abgefallen. Seit Dezember verbrachte er viel Zeit damit, Briefe an diejenigen zu schreiben, deren Projekte er auf dem Zeichentisch hatte, um herauszufinden, ob sie ihm die Treue halten würden.
Er hatte ihr gegenüber eine Verzweiflung erkennen lassen, wie sie sie noch nie an ihm gesehen hatte. Auf dem Höhepunkt der Anwürfe hatte er tatsächlich befürchtet, von der Hand eines Lynchmobs zu sterben. Ende Dezember hatte Frank eine Lebensversicherung im Wert von fünfzigtausend Dollar abgeschlossen und Mamah als Nutznießerin eingesetzt. Er hatte in solchen Begriffen davon gesprochen, wie dass er sie beschützen wolle, doch die Angelegenheit hatte noch eine andere Seite, nämlich sein tief reichendes Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein – die Kehrseite seiner tiefen Überzeugung von seiner schicksalshaften Bestimmung als Künstler.
Mamah las einen Abschnitt des Gedichts.
Ich war ein Held in Schwierigkeiten:
Ich war ein großer Strom auf den Hängen:
Ich war ein Boot in der zerstörerischen Flut:
Ich war ein Gefangener am Kreuz…
Diese Worte würden Franks Weltsicht nur noch weiter verdüstern. Mamah klappte das Buch zu und stellte es ins Regal. Sie musste behutsam vorgehen. Vielleicht würde sie es ihm in zwei Monaten geben. Zum jetzigen Zeitpunkt würde es ihn nur noch tiefer in die Depression stürzen.
»Ich kann nicht endlos hier herumsitzen und Entwürfe zeichnen«, sagte er an den langen Februartagen mehr als einmal. »Es gibt Münder zu stopfen.« Er ging aus dem Haus und spaltete Holz, bis er kaum noch die Arme heben konnte, und wenn er wieder hereinkam, war er immer noch wütend.
Er müsse bauen, sagte er und warf im Wohnzimmer noch weitere Scheite auf
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