Kein Blick zurueck
Was er brauchte, war ihre Unterstützung, und die gewährte sie ihm bedingungslos.
Pack das perlenbestickte Kleid aus. Sie lachte laut auf. Während er sich mit Maurern und aufgebrachten Künstlern herumschlug, plante er auch noch bis ins kleinste Detail den Eröffnungsabend, einschließlich des Kleids, das Mamah tragen sollte. Das war Frank, wie er leibte und lebte und jedes noch so nebensächliche Detail inszenierte. Und auf seine Weise sagte ihr Frank, was sie beide wussten – die Eröffnung war ihrer beider Coming-out. Es würde die Enthüllung seines ersten öffentlichen Gebäudes in Chicago werden und ihr erster gemeinsamer Auftritt in der Öffentlichkeit nach dem Skandal. Er wollte, dass alles, sie eingeschlossen, perfekt sein sollte.
Als sie in Chicago eintraf, stellte sie ihr Gepäck im Kutschenhaus ab und nahm den E1-Zug in die Südstadt. Sie stieg an der 59. Straße und Jackson Park aus, derselben Haltestelle, wo sie so viele Male ausgestiegen war, als sie an der Universität Kurse besucht hatte. Als sie die jungen Leute sah, die auf Midway Plaisance an ihr vorübergingen, stellte sie sich vor, was für ein Kuriosum sie zehn Jahre zuvor gewesen sein musste, als sie bei Robert Herrick den Kurs über den Roman belegt hatte. Sie hatte die Studenten als gleichrangig angesehen. Doch diese Collegestudenten – war sie hoffnungslos alt geworden, oder waren sie auch damals schon so jung gewesen und sie hatte es nur nicht bemerkt?
In der Ferne sah sie, dass die beiden quadratischen Türme, die das langgestreckte Gebäude aus gelbem Backstein anbeiden Enden verankerten, weiter in die Höhe gewachsen waren, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Frank hatte noch mehr Balkone übereinandergestapelt, einen über den anderen, in einem Akt der Tollkühnheit. Er nannte diese beiden Türme Belvedere, und sie sah, dass sich von den Balkonen aus eine herrliche Aussicht bieten würde. Das vorspringende Dach über dem obersten Stockwerk schien frei über dem Gebäude zu schweben.
Als sie näher kam, erkannte sie die komplexe Oberfläche des Gebäudes. Wie verspielt es war. Jede Ebene schien mit einem bestimmten Muster versehen zu sein, von dem aus Backsteinen und Mörtel gemauerten gelben Fundament bis hin zu den höher liegenden Mauern aus Betonblöcken, die gemustert waren wie ein Gewebe. Um auf die heitere Atmosphäre im Innern hinzuweisen, hatte Frank zu beiden Seiten des Haupteingangs Elfen mit leicht gesenkten Köpfen aufgestellt. Sie schienen Mamah zuzuzwinkern, als sie durch den Eingang trat.
Im Innern des einen Belvedere stand ein Künstler auf einem Gerüst und trug an dem gefürchteten Wandgemälde erste Farben auf. Weiter oben an der Wand sah sie skizzierte Umrisse, konnte darin jedoch keine Anzeichen jener Katastrophe erkennen, die Frank vor sich sah. Sie setzte ihren Weg fort und ging über einen langen Flur in einen ausgedehnten Garten im Innern des Gebäudes, wo die verschiedenen Ebenen vielfach in weitere Ebenen übergingen, wenn man den Blick nach oben und durch den Raum schweifen ließ.
Eine Betonmischmaschine in der Mitte des Raums brachte das ganze Innere zum Grollen. Die Ausdünstungen des nassen Mörtels hingen in dem Nachmittagslicht, das durch die Fenster strömte. Ein gut gelaunter alter Ausfahrer tippte an seinen Hut, als er mit einem Karren voller Blumen undGrünpflanzen an ihr vorbeiflitzte. »Das ist doch was, oder nicht?«, rief er ihr zu.
Sie versuchte, sich vorzustellen, wie diese verschiedenen Ebenen am nächsten Abend aussehen würden. An den Tischen würden Dinnergäste sitzen und auf die in einem Schachbrettmuster gestaltete Tanzfläche in der Mitte des Raums hinunterschauen. Von sämtlichen Balkonen würde mit der Zeit Efeu herabhängen. Der Ort ließ tatsächlich Gedanken an die hängenden Gärten von Babylon wach werden. Frank sagte, manche fänden, es sähe aus wie die Pyramiden der Azteken.
Sie erkannte all dies darin und mehr – die Biergärten, die sie und Frank in Berlin und Potsdam besucht hatten; die Terrassen, über die sie in Italien spaziert waren. Die Frauenstatuen, die Frank am Rand der versunkenen Gärten aufgestellt hatte, erinnerten sie an die quadratischen, von aus Stein gehauenen Köpfen gekrönten Säulen, die sie in italienischen Gärten gesehen hatte. Doch sie erinnerten sie auch an Japan – ihr eckiger Kopfschmuck wirkte wie abstrakte Geisha-Flügel. Frank hatte seine Erfahrungen miteinander verschmolzen und in etwas ganz Neues verwandelt: Weckruf und
Weitere Kostenlose Bücher