Kein Blick zurueck
zurechtrücken zu sehen.
Kapitel 48
23. JUNI 1914
PACK DAS PERLENBESTICKTE KLEID AUS
F.
Das Telegramm kam am Tag vor ihrer Abfahrt nach Chicago. Sie hatte Frank gesagt, dass sie am 27. das perlenbestickte Kleid tragen würde. Was er nicht wusste, war, dass das Kleid, das er in Italien für sie gekauft hatte, schon lange »ausgepackt« war. Vergangenen Monat hatte sie das Unterkleid und das perlenbesetzte Überkleid Dutzende Male angezogen und sich vor dem Spiegel hin und her gedreht, um ihre Rückseite, dann ihre Silhouette in Augenschein zu nehmen, und mit sich gerungen, ob sie es zur Eröffnung vonMidway Gardens tatsächlich tragen sollte. In den vier Jahren, seit er es ihr geschenkt hatte, hatte das Kleid ungetragen in diversen Schränken gehangen, während ihr Körper sich neu geordnet hatte.
Mamah hatte Eitelkeit an Frauen in mittleren Jahren immer gehasst. Sie und Mattie hatten einander versprochen, sie würden dem Alter mit Würde begegnen, ohne Henna und Puder. Doch jetzt, beim Anblick ihres Spiegelbilds, hasste sie, was sie sah. Es lag nicht an dem Kleid, das lose und günstig geschnitten war. Es lag an der weicheren, weniger lebendigen, etwas unmodern wirkenden Frau, die ihren Blick erwiderte. Mit fünfundvierzig waren ihr die grauen Haare oder die Furche zwischen ihren Brauen einerlei. Was sie verabscheute, war das Gewicht der Schwerkraft, denn es ließ sie müde aussehen, obwohl sie sich innerlich jung fühlte, von der schärfsten Klarheit des Denkens, die sie seit dem Alter von fünfundzwanzig gekannt hatte.
Sie zog das Kleid aus, faltete es zusammen und legte es in den Koffer. Wie sie aussah, war nicht wichtig. Es würde ohnehin Franks Abend werden – ein lange überfälliges Fest. Frank war seit zwei Wochen nicht mehr zu Hause gewesen, und im Monat davor nur sporadisch. Sie hatten beide nicht an den Geburtstag des anderen gedacht. In den letzten Tagen vor der Eröffnung kehrte er nicht einmal mehr in sein pied-à-terre zurück, sondern schlief stattdessen mal hier, mal dort auf einem Haufen Steppdecken, und was er sonst noch finden konnte, in den Gardens. Er arbeitete bis in die frühen Morgenstunden, bis er nicht mehr konnte, und stand um sechs Uhr wieder auf.
Bei seinem letzten Besuch zu Hause war er auf und ab gegangen und hatte seine Sorgen abgeladen. Die Projektentwickler hatten es nicht geschafft, genügend Geld zu beschaffen, um die Baukosten zu decken, in ihrem Größenwahn jedochgleichwohl mit dem Bau begonnen. Sie hatten ihm fünftausend Dollar bezahlt, sprachen jetzt allerdings davon, das noch ausstehende Honorar in Aktien zu begleichen. Der arme Müller, der Bauleiter, war am Freitag gezwungen gewesen, seinen Arbeitern die Nachricht zu überbringen, dass ihre Löhne in dieser Woche nicht pünktlich eintreffen würden.
Dennoch wuchs der Bau, erzählte er ihr, bei Gott, er wuchs. Und was für eine Ansammlung von Charakteren sich jeden Tag auf der Baustelle versammelte – Maler, Bildhauer, Handwerker, Ingenieure, Musiker, Köche. Allesamt talentiert, allesamt darum bemüht, der Sache ihren Stempel aufzudrücken. Zwischen den Künstlern und den Gewerkschaftern wimmelte es dort von mehr Primadonnen als beim Treffen einer Operntruppe. Iannelli war nur einer von vielen. Frank beschlich die Angst, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er bei zwei sehr bekannten Malern des Modernismus Wandgemälde in Auftrag gegeben hatte. Er hatte ihnen allgemeine Richtlinien und bestimmte Farben vorgegeben. Doch was er bisher zu sehen bekommen hatte, war grundfalsch.
»Die Wandgemälde liegen im Widerstreit mit der Architektur«, erzählte er ihr. »So viel weiß ich bereits.«
»Dann tue etwas dagegen«, sagte Mamah. »Du bist überarbeitet, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt zu zögern, nicht bei einem so wichtigen Auftrag. Es ist das erste Mal, dass die Öffentlichkeit einen deiner Bauten wirklich erleben kann. Er wird mit der Zeit Tausenden – Millionen – die Augen öffnen. Warum dich mit Wandgemälden zufriedengeben, die dich nicht glücklich machen? Du kannst sie später anbringen lassen.«
»Du hast natürlich recht«, sagte Frank und drückte ihre Hand.
Sie wusste, dass er ihren Rat nicht brauchte. Es bedurfte einesgewaltigen Egos, um ein derart gigantisches Projekt, wie sie noch nie zuvor eines gesehen hatte, in die Tat umzusetzen und gleichzeitig die allfälligen Zweifler zu versichern, dass am Ende alles wunderbar sein würde. Außerdem bedurfte es des Muts und einer Vision.
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