Kein Blick zurueck
Fantasie gleichermaßen.
Mehr als alles andere fiel Mamah die unbändige Freude auf, die er in Midway Gardens zum Ausdruck brachte. Nach all den Veränderungen erwies sich das Gebäude nun als ebenso verspielt wie die Elfen an seinem Eingang. Hier war ein »Ort für die guten Zeiten«. Er würde so vielen Menschen Freude bereiten.
Wo immer sie hinsah, sah sie ihn spielen. An den Wänden ließen in einem Fries aus Buntglasfenstern eingelassene Drachen aus rotem Glas ihre schwarzen Schwänze vor dem Himmel flattern. Sie stellte sich vor, dass Frank die Schnur jedes einzelnen festhielt und sie alle gleichzeitig steigen ließ,mit derselben Begeisterung im Herzen wie alle, die schon einmal einen Drachen hatten steigen lassen.
»May-mah!« John Vogelsang hastete durch den Wintergarten, als er sie entdeckte, und beugte sich zu ihr hinunter, um sie auf die Wange zu küssen. »Wie geht es Ihnen? Weiß Frank, dass Sie hier sind?«
»Nein, ich habe mich hier hereingeschlichen, um von der Aufregung zu kosten.«
»Sprechen Sie mir nicht von Kosten. Ich habe heute so vieles gekostet, dass mir die Zunge schmerzt.«
»Sind Sie bereit?«
Er zuckte die Schultern. »Wenn die Kellner erscheinen. Wenn die Köche erscheinen. Wenn die Leute kommen.«
»Die Leute werden kommen«, sagte sie.
»Sagen Sie, wie machen sich die Carltons?«
»Sie sind wunderbar, aber ich denke, dass Gertrude ein wenig einsam ist dort draußen auf dem Land. Als ich gegangen bin, hat sie mir gestanden, dass sie sich wünschte, sie könnte in die Stadt fahren.«
»Sie kann kochen, nicht wahr?«
»Es ist ein Wunder.«
»Lassen Sie sie mal Callaloo zubereiten. Wir konnten bei uns zu Hause nicht genug davon bekommen. Sie bekommt hier nirgends richtiges Callaloo, deshalb verwendet sie Spinat.« In diesem Moment kam ein besorgt dreinblickender Mann auf Vogelsang zu, und der Restaurantbetreiber entschuldigte sich. »Okra und Krabbenfleisch«, rief er, als er ihr auf Wiedersehen zuwinkte. »Es ist unglaublich.«
Mamah trat auf einen Balkon, von dem aus man einen Blick über den Sommergarten hatte. Das Orchester probte im Pavillon, und sie hörte genau hin. Sie spielten Saint-Sans, und der Klang war ausgezeichnet. Sie begriff, was Frank getan hatte – er hatte aus den versetzten Terrassen und Balkoneneinen Symphoniesaal geschaffen. Auf der Cottage Grove Avenue mochten die Autos dröhnen, doch von ihrem Standort aus klang die Musik so klar, als stände sie auf dem ersten Balkon der Berliner Oper.
Ihr Blick fiel unten auf Frank, der mit einem bärtigen Mann, wahrscheinlich Paul Müller, einige Zeichnungen durchsprach. Draußen im Freien, auf dem riesigen Platz, wurden Tische und Stühle zu perfekten Reihen angeordnet. Bei diesem Anblick lief ihr vor Vorfreude ein angenehmer Schauder über die Arme. Gott, wie lange war es her, seit sie das letzte Mal auf einer Party gewesen war? Und wie sie es liebte! Sie dachte an das perlenbestickte Kleid und an die beängstigende Aussicht, dass die Leute sie am nächsten Abend anstarren würden, darauf bedacht, einen Blick auf Franks »Wahlverwandte« zu erhaschen. Sie machte kehrt und ging eilig zum Ausgang und zur Haltestelle.
Eine halbe Stunde später saß Mamah im Friseursalon von Palmer House. Schon einmal, als sie sich zu einem Besuch ihrer Kinder in der Stadt aufgehalten hatte, hatte eine nette Frau ihr dort das lange Haar geschnitten. Doch diese Frau war nirgends zu sehen. Jetzt stand ein junger Mann vor ihr und hielt das Bild in der Hand, das sie im Schaufenster gesehen hatte. Sie hatte den Salon betreten, ohne zu wissen, was für eine Frisur sie haben wollte, nur, dass ein Wunder geschehen musste, damit sie sich wieder jung und hübsch fühlte. Als sie im Fenster das Bild gesehen hatte, war sie wie angewurzelt stehen geblieben. Die Illustration zeigte eine Frau mit kinnlangem Haar. Elses Haarschnitt.
»Man nennt diesen Stil ›Vorhang‹, Madam«, sagte der Friseur. Der Mann hatte ein feierliches Gebaren, das nicht zu dem Namen auf seinem Friseurmantel passen wollte – Locke. Sein stark gelocktes Haar, das er betonte, statt es zubekämpfen, lieferte ganz offensichtlich den Grund für seinen Spitznamen. Er trug einen Linksscheitel, und auf seiner rechten Kopfseite stieg das Haar zu einer Masse kleiner Wellen empor, die gute fünfzehn Zentimeter über seiner Kopfhaut eine schiefe Krone bildeten.
Mamah setzte sich auf dem roten Ledersitz des Friseurstuhls zurecht. Beim Anblick der ausgefallenen Frisur des Mannes
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