Kein Blick zurueck
Abendbrottisch sitzt und die Unterhaltung in Gang hältst.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Geh und versuche, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, Mamah.« Lizzie tätschelte ihr die Schulter. »Wenn du die Kinder bei mir lassen willst, dann geh und mache Ferien.«
»Nein, ich möchte sie bei mir haben, und sie sind ganz aufgeregt wegen der Reise. Aber danke, Lizzie.«
»Ich habe das Gefühl, mit ein wenig Abstand wirst du die Dinge anders sehen.« Lizzie drückte ihre Zigarette aus, dann trug sie den Stummel zur Mülltonne. Als sie zurückkam,strich sie Mamah mit der Hand über den zerzausten Kopf. »Ich gehe eine Weile in die Stadt«, sagte sie. Ihre Stimme klang traurig.
Mamah blickte ihrer Schwester nach, als sie zur Straße ging. Als sie außer Sicht war, betrachtete Mamah das Blumenbeet neben der Verandatreppe. Sie und Lizzie hatten es im vergangenen Frühling gemeinsam bepflanzt. Mamah hatte Pflanzen gesetzt, die sie von einer Nachbarin geschenkt bekommen hatte – Stockrosen, stacheligen Bartfaden, großblättrigen Rhabarber. Lizzie war losgezogen und hatte flach wachsenden Steinbrech gekauft, der unter Mamahs rauen Riesen einen duftenden weißen Teppich bildete und es irgendwie schaffte, den ganzen verrückten Flickenteppich zu einen und zusammenzuhalten.
Der Steinbrech war so ganz Lizzie. Stets hielt sie sich unauffällig im Hintergrund und sorgte dafür, dass alles lief. Sie war nur drei Jahre älter als Mamah, hatte aber immer den Eindruck vermittelt, als gehöre sie der vorherigen Generation an. Sie war reserviert, damenhaft, von derselben kühlen Anmut, wie auch ihre ältere Schwester Jessie sie besessen hatte.
Als sie noch ein kleines Kind gewesen war, waren die beiden für Mamah die Sterne am Firmament gewesen. Als ältere Kinder hatten sie einander nahegestanden bis zu dem Tag, als Jessie bei der Geburt ihres Kindes starb. Danach, nachdem Mamah und Edwin Jessies Neugeborenes zu sich genommen hatten, wurden Mamah und Lizzie ein Team. Der Platz in dem neuen Haus, den Frank als Garage vorgesehen hatte, war stattdessen Lizzies Wohnung geworden.
Die Leute schüttelten verwundert den Kopf, weil Lizzie nicht geheiratet hatte. Sie fragten sich laut, ob der perfekte Apfel einen Wurm hatte, vielleicht ein verbittertes Herz nach einer früheren Liebesaffäre. Mamah wusste, es war etwas anderes.Es hatte genügend Anwärter gegeben, doch Lizzie zog ihre Unabhängigkeit vor. Sie war durch Zufall zu einer Familie gekommen. Welches Bedürfnis hatte sie nach einem Ehemann? Es gefiel ihr, jeden Tag aus dem Haus zu gehen und als Lehrerin an der Irving-Grundschule ihre Arbeit zu tun. Es gefiel ihr, nach Hause zu kommen und nach Herzenslust zu rauchen, ohne sich bei jemandem entschuldigen zu müssen. Sie übernahm ihren Teil – mehr als das – an der Erziehung der kleinen Jessie. Nach dem Tod ihrer Schwester hatte sie die Rollen übernommen, die Jessie innegehabt hatte: als Ferienorganisatorin, als Bilderbuchherstellerin, als Gedächtnis der Namen irgendwelcher Großtanten, als Bewahrerin der Borthwick’schen Familienfolklore.
Lizzie war John, Martha und Jessie eine so wunderbare Tante, wie ein Kind sie sich nur wünschen konnte. Doch das Familienleben fand im ersten Stock statt. Ohne je ein Wort darüber zu verlieren, hatte sie allen beigebracht, ihre Privatsphäre zu respektieren. Ihre Wohnung im Untergeschoss war tabu – man betrat sie nur auf Einladung.
Mamah liebte es, in der Weihnachtszeit Lizzies Reich zu betreten. Jeder Quadratzentimeter der Wohnung war mit Bändern, Papier und Geschenkschachteln vollgestopft, die entweder schon verpackt waren oder es demnächst werden würden. So war sie – bedingungslos großzügig. Von ihrem mageren Gehalt hatte sie den größten Batzen von Mamahs Studium bestritten; etwas, worauf sie stolz war. Aber sie war nicht die Frau, lautstark nach gleicher Bezahlung zu rufen, auch wenn sie sich darüber ärgerte, dass ihr Gehalt niedriger war als das ihrer männlichen Kollegen.
Sie war nie Frauenrechtlerin gewesen, auch wenn ihr Herz für die Sache schlug. Sie hielt mit ihren Meinungen hinter dem Berg.
Nein, Lizzie zog es vor, ein unauffälliges Leben zu führen,gelassen ihren Beschäftigungen nachzugehen, und ihre empfindlichen Antennen veranlassten sie, das Zimmer zu verlassen, wenn das Gespräch zu privat oder ungemütlich wurde. Seit Edwins und Mamahs Heirat hatte sie beinahe die ganze Zeit mit ihnen zusammengelebt. Mamah kam zum ersten Mal
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