Kein Blick zurueck
ausgossen, um die Staubwolken in Schach zu halten. Der blaue Himmel in Boulder ließ Chicago im Vergleich dazu aussehen wie eine Kohlenmine.
Sie gab sich bis Juli Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Es gab genügend anderes, um das sie sich kümmern musste. In der dritten Woche ihres Aufenthalts musste John sich mit starken Halsschmerzen und einer Erkältung ins Bett legen. Seine Oberlippe wurde ganz wund, weil er sich ständig die Nase putzte.
»Ich hoffe, ich habe kein Nasenfieber«, sagte er. Er lag auf seiner Pritsche neben dem Bett, das Mamah sich mit Martha teilte. »Wenn man bei Nasenfieber zu viel Sarsaparilla trinkt, kann man sterben.«
Mamah unterdrückte ein Lachen. »Wo hast du denn das gehört?«
»Bei Mrs. Brigham.«
Sie befühlte seine Stirn. »Weißt du, die Leute erzählen die Dinge nicht immer ganz richtig. Nicht einmal die Erwachsenen. So etwas wie Nasenfieber gibt es nicht, Liebling.«
Mamah schwor sich, die beiden aus dem Haus und mit anderen Kindern zusammenzubringen. Neben Matties Kindern Linden und Anne brauchten sie auch noch ein paar andere Freunde. Einige Tage später meldete sie sie für zwei Vormittage in der Woche beim Tagesprogramm der Mapleton-Schule an. Dann überquerte sie die Straße und ging in die Bibliothek, wo sie eine überlastete Clara Savory antraf.
»Hätten Sie Verwendung für ehrenamtliche Unterstützung? Vielleicht könnte ich am Katalog arbeiten?«, erkundigte sich Mamah.
»Ich wäre Ihnen ewig dankbar«, sagte die Frau. »Ich habe keine Sekunde Zeit für Melvil Dewey.«
Danach arbeitete Mamah an zwei Vormittagen in der Woche in der Bibliothek und verbrachte ein, zwei Stunden mit dem Ordnen des Bestandes. Manchmal übernahm sie die Erzählstunde und las den Kindern vor, damit Clara eine Verschnaufpause einlegen konnte.
An den Nachmittagen machte sie sich mit den Kindern auf den Weg zu Mattie. Ihr Schritt verlangsamte sich jedes Mal, wenn sie an der Mapleton Street an einem bestimmten Bungalow vorbeikam. Dort standen Blumenkästen mit orange blühendem Mohn in den Fenstern, und sie ertappte sich dabei, dass sie sich Martha und John vorstellte, wie sie auf der breiten Eingangstreppe saßen.
»Wirf mal einen Blick in die Zeitung«, sagte Mattie eines Nachmittags zu Mamah, kurz nachdem sie bei ihr eingetroffen waren. Sie saß im Wohnzimmer in einem schweren eichenen Ledersessel. »Dort stehen heute die Termine für den Zirkus.«
Martha und John rannten auf der Suche nach Linden und Anne davon, während Mamah die Zeitung aus der Küche holte. Sie hatte sich erboten, die Kinder alle zu dem Umzug und am Tag darauf zu der Galavorstellung mitzunehmen. Alle waren von diesem Plan hellauf begeistert, mit Ausnahme Mamahs, die niemandem erzählt hatte, dass sie den Zirkus nicht ausstehen konnte. Nun, nicht den ganzen Zirkus, nur die Clowns – all diese künstliche Fröhlichkeit. Auch die Elefanten taten ihr leid.
»Mattie, habe ich dir schon gesagt, wie miserabel diese Zeitung ist?«
»Die Daily Camera ?«
»Seit meiner Ankunft haben sie Billy Sunday in jeder Ausgabeauf der ersten Seite eine Kolumne gewidmet. Und diese Kolumne lassen sie auch noch von einem seiner Jünger schreiben. Darüber drucken sie einen kleinen Haftungsausschluss, aber es ist einer von seinen eigenen Leuten, der Billy all diese Seite-eins-Berichterstattung angedeihen lässt.« »Ja, ich weiß, es ist schlimm«, stimmte Mattie ihr zu. »Wir sind hier draußen solche Hinterwäldler.«
»Hör dir diese Schlagzeile an«, sagte Mamah ungläubig. »›Der Tanz ist ein sexuelles Liebesfest!‹ Das muss ich unbedingt lesen. Lass mal sehen… scheint, als hätte Reverend Sunday bei einer seiner Erweckungsveranstaltungen in New Jersey eine Frau kennengelernt. Oh, hier wird es gut.
›Sie hatte Haare wie Rabenflügel‹, sagte Reverend Sunday, ›eine griechische Nase und große braune Augen, ein ovales Gesicht, einen dunklen Teint und lange, spitze Finger – ein Mädchen, nach dem sich jeder zweimal umdrehen würde, das hübscheste Mädchen, das ich mit Ausnahme meiner Frau je gesehen habe.‹«
»Er nennt seine Frau ›Ma‹. Ist das nicht süß?«, warf Mattie dazwischen.
»Ma Sunday ist nicht dumm«, lachte Mamah. »Sie begleitet ihn auf allen Reisen. Achtet darauf, dass er den alten Schwerenöter unter Verschluss hält.«
»Sie wird wohl wissen, dass er eine Schwäche hat für spitze Finger.«
»›Sie liebte es‹«, las Mamah in laszivem Ton weiter. »Ich fand sie weinend auf den Knien und fragte:
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