Kein Blick zurueck
Sofa vor dem Fenster. Das Goethe-Bändchen lag zwischen ihnen. Mamah fuhr mit dem Finger die dritte Textzeile entlang und schrieb rasch etwas auf das Blatt Papier, das auf ihrem Schoß lag.
Sie las es Frank vor.
»So klingt es furchtbar steif«, sagte Frank und kratzte sich am Kopf. »Wie wäre es damit?«, sagte er und machte einen Vorschlag.
»Das hört sich besser an.« Sie schrieb die Korrektur über die Zeile, dann übersetzte sie die nächste.
Frank schaute auf das Papier in ihrer Hand. »Hier wirkt es zu hart, meinst du nicht? ›Kreislauf ihres Tanzes‹ meint nichts Derwischhaftes. Ich denke, dieser Gedanke an einen Tanz mit dem Leben meint etwas Zarteres, eher einen Walzer.« Mamah klopfte sich nachdenklich mit dem Bleistift gegen die Zähne.
»Bring kein Blei an diese Lippen«, sagte er.
Sie notierte wieder ein paar Worte und strich andere durch. »Wie ist es damit?«, fragte sie einen Augenblick später und las ihm vor, was sie geschrieben hatte.
Er strich ihr eine lange, dunkle Haarsträhne hinter das Ohr. »Wunderbar«, sagte er.
An diesem Morgen begleitete sie Frank in Wasmuths Druckerei. Es schien Ernst Wasmuth nervös zu machen, sie als Übersetzerin dabeizuhaben, insbesondere da er nun wusste, wer – was – sie war. Er war in ihr persönliches Drama hineingezogen worden, und das wollte er nicht. Wasmuth war ein kultivierter Mann, gerade kultiviert genug, und bemüht – und sie war eine attraktive Frau. In erster Linie war er jedoch Geschäftsmann. Es war eindeutig, dass es ihm schwerfiel, in ihrer Gegenwart hart zu bleiben oder sogar Druck auszuüben. Er hatte seinen Geschäftspartner, Herrn Dorn, dabei, dem solche Bedenken offenbar fremd waren.
Sie verlangten neuntausend Mark bei Lieferung von viertausend Exemplaren des kleineren Projekts, dem Bildband. Der große Folio-Band mit Franks Zeichnungen sollte später gedruckt werden – fünfhundert Exemplare für den amerikanischen Markt, fünfhundert für den Verkauf in Europa. Sie debattierten hin und her über Seitenzahlen, Schriftgröße, Zollkosten beim Transport.
»Wir haben alle Hände voll zu tun«, flüsterte Mamah Frank zu, als sie Wasmuths Büro verließen.
»Was hältst du von Dorn?«
»Ich würde ihm nicht ganz trauen. Noch nicht.«
Vor dem Büro blieben sie kurz am Empfang stehen, wo Post auf Frank wartete. Mamah konnte einen kleinen Stapel ausmachen, der auf dem Tresen für ihn bereitlag. Obenauf eine Postkarte mit einer Abbildung des Unitarier-Tempels.
»Haben Sie Post für eine Mrs. Cheney, Mamah Cheney?«, fragte sie Wasmuths Empfangsdame.
Die Frau war gekleidet wie so viele andere, die sie auf der Straße gesehen hatte – mit einer kleinen Schleife am Halsund winzigen Brillengläsern. »Wir hatten welche«, sagte sie.
»Ich möchte diese Post gerne mitnehmen«, sagte Mamah. Die Frau wirkte verdutzt, und ihr Blick irrte zwischen Mamah und Frank hin und her. »Oh«, sagte sie und durchwühlte den Korb, »wir haben sie möglicherweise wieder zurückgeschickt.«
»Ich habe vergessen, Sie darauf hinzuweisen. Es ist mein Fehler«, sagte Frank. »Ich habe nicht daran gedacht.«
Mamah stellte sich Edwins Gesichtsausdruck vor, wenn er einen zurückgesandten Brief in Händen hielte. Sie hatte ihm die Adresse von Wasmuths Büro in der Markgrafenstraße hinterlassen.
Die Frau ging noch einmal zur Poststelle, und Frank begleitete sie. Mamah streckte die Hand aus und drehte auf Franks Stapel die Postkarte mit der Abbildung des Unitarier-Tempels um.
20. Okt. 1909
Mein Lieber,
Die Kinder vermissen Dich, wie ich auch. Wir hoffen, Dir geht es gut und Deine Arbeit kommt gut voran.
Deine Dich liebende Frau,
Catherine L. Wright
Als sie den Blick hob, sah sie Frank und die Frau auf sich zukommen. Franks Gesichtsausdruck war immer noch gequält.
»Es tut mir leid, Mrs. Wright«, sagte die Frau. »Ist Ihre Freundin Mrs. Cheney mit Ihnen zusammen hier?«
»Ja.«
Die Frau händigte ihr zwei Briefe aus, einen von Edwin und einen von Lizzie.
»Vor ein paar Tagen war ein Herr hier und erkundigte sichnach einer Mrs. Cheney. Ich sagte ihm, wir hätten Post für sie, wüssten aber nicht, wer sie sei. Mir war nicht klar, dass sie mit Ihnen reist.«
»Ein Herr?« Mamah spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. »Wie sah er aus?«
Die Angestellte sah zur Wand und versuchte sich zu erinnern. »Er trug einen dicken Mantel und hatte eine Glatze, bis auf ein paar Haare hier.« Sie zeigte seitlich an ihren Kopf. »Er sprach englisch. Ein
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