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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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dessen Rücken in gedruckten Lettern GOETHE stand. Sie reckte sich, um es vom Regal zu nehmen,dann ließ sie sich auf eine Bank fallen. Die Seiten im Innern des zerschlissenen Ledereinbands waren von schwarzen Stockflecken übersät, doch der Text war durchweg lesbar. Die Natur: Fragment, las sie auf dem Titelblatt. Sie hatte sich am College mit Goethe befasst und diese Arbeit später allein weitergeführt. Dennoch war sie mit diesem Text, bei dem es sich um einen Aufsatz zu handeln schien, nicht vertraut. Das Datum auf dem Umschlag lautete 1783.
    »Handelt es sich hier um eine Originalausgabe?«, fragte Mamah den Inhaber.
    »Das glaube ich nicht.«
    »Sind Sie mit drei Mark zufrieden?«
    Der Mann runzelte die Stirn. »Sie haben hier möglicherweise etwas Bedeutendes gefunden.« Er nahm das Bändchen in seine großen, schinkenartigen Hände und untersuchte es. »Zwölf«, sagte er.
    Sie nahm das Buch nochmals in die Hand und besah es sich genau. Dann tat er wieder das Gleiche. Am Ende gab sie ihm zehn Mark.
    Mit dem in braunes Packpapier eingeschlagenen Buch in der Tasche eilte Mamah zurück zum Adlon. Sowie Frank zur Tür hereinkam, rannte sie auf ihn zu, um ihm ihre Trophäe zu zeigen.
    »Es ist sehr alt«, sagte sie atemlos. »Über hundert Jahre.« »So alt riecht es auch.« Er trennte die zusammenklebenden Seiten voneinander.
    »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht ins Englische übersetzt worden ist.« Sie sah ihm in die Augen. »Lach nicht, aber ich habe das Gefühl, als sei es mir bestimmt gewesen, es zu finden.«
    »Vielleicht ist es so.«
    »Lass es uns zusammen übersetzen«, sagte sie. »Wir könntenes tatsächlich zum ersten Mal ins Englische übertragen.«
    Frank wirkte skeptisch. »Aber mein Vokabular beschränkt sich auf nein und ja.«
    »Das stimmt nicht. Du kannst guten Morgen sagen!«
    »Ja.«
    »Das spielt keine Rolle. Ich sage dir, was es wörtlich heißt, und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir es am besten ausdrücken können. Wichtiger ist, dass du dich in deiner eigenen Sprache schriftlich gut ausdrücken kannst. Zufällig kannst du dich hervorragend ausdrücken. Und zufällig handelt dieser Aufsatz von der Natur.«
    »So funktioniert das mit dem Übersetzen?«
    »Nun, es ist ein wenig wie Alchemie, glaube ich. Es ist eine große Hilfe, die Kultur zu verstehen, aus der man übersetzt, ebenso wie die, in die man übersetzt.«
    »Aber hier handelt es sich um Poesie.«
    »Genau, das macht es schwieriger. Idealerweise bist du Dryden, der sich hinsetzt und griechische Gedichte in perfekte englische Verse überträgt. Doch das wird hier nicht passieren. Wir versuchen, die Seele des Ganzen herauszuarbeiten.« »Das würde mir gefallen.«
    »Aber, caveat emptor«, neckte sie ihn. »Man benötigt Demut, denn selbstverständlich betrachtet kein Mensch es als deines. Der Übersetzer ist nur ein Filter.« Sie warf ihm über ihre Brille hinweg einen prüfenden Blick zu. »Kannst du ein Filter sein?«
    »Das ist natürlich ein Wermutstropfen.«
    »Wir fangen beim Abendessen an.«
    »Mmm«, sagte er, »das geht heute nicht.« Seine Stimme klang spielerisch. »Es gibt da etwas, das sogar du lieber tätest.«
    »Was? Erzähl es mir auf der Stelle. Was ist es?«
    »Wasmuth und seine Frau haben zwei zusätzliche Opernkarten. Sie haben uns eingeladen, sie in die Oper zu begleiten und später dann ins Kempinski. Wir müssen in ungefähr fünfundvierzig Minuten in der Staatsoper sein.«
    » Du bist gewillt, in die Oper zu gehen?«
    »Aus geschäftlichen Gründen.« Er verdrehte die Augen.
    Mamah stieß einen Freudenschrei aus und wirbelte in einem kleinen Tanz durch das Zimmer. »Was für eine Oper?«, rief sie, während sie rasch ihr dunkelblaues Abendkleid anzog. Sie verstand nicht, was er sagte. Sie legte sich ein jettbesetztes Band um den Hals.
    »Fantastisch«, sagte Frank, als sie wieder auftauchte.
    Draußen auf dem Flur wartete ein glatzköpfiger Mann in einem Überzieher mit Nerzkragen auf den Lift. Als er kam, zog er das Sperrgitter zurück und verbeugte sich leicht und ließ Mamah und Frank den Vortritt. Sie konnte das Kölnisch Wasser des Mannes riechen und merkte, dass er sie beobachtete.
    Was für ein Bild geben wir ab? , fragte sie sich. Sehen wir aus wie ein Ehepaar, zwei Teile eines Ganzen? Oder erkennt er die Wahrheit?
    In der Hotelhalle drehten die Leute die Köpfe nach ihnen um und starrten sie an. Sie wusste, dass sie gut aussah. Doch das Adlon war voller schöner Frauen. Frank war

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