Kein Blick zurueck
es, von dem die Menschen meinten, sie müssten ihn erkennen. Er war nicht groß, doch sehr elegant in seinem schwarzen Cape, mit grauen Schläfen und einem Auftreten, das ihn heraushob und von den anderen Männern absetzte. Die Lederstiefel mit den hohen Absätzen und der breitkrempige Filzhut verliehen ihm ein verwegenes Aussehen.
Als sie vor das Hotel traten, hörte der kalte Nieselregen gerade auf. Mamahs Haut prickelte in der elektrisch geladenen Abendluft des Pariser Platzes.
»Welche Oper, sagtest du?«, fragte sie.
»Boitos Mefistofele . Schaljapin singt die Titelrolle.«
Sie gingen schweigend ein Stück. Was er wohl denkt? , fragte sie sich.
»Weiß Wasmuth Bescheid?«, fragte sie.
»Über unsere Verhältnisse? Nein. Wir haben nur über Geschäftliches gesprochen.«
Mamah setzte eine beherrschte Miene auf. Das schaffe ich , dachte sie.
»Ich werde keine anderen gesellschaftlichen Termine mehr für uns vereinbaren.« Frank spürte ihre Enttäuschung. »Ich dachte nur, es wäre für dich vielleicht eine Möglichkeit zu verstehen, was der Mann mir bisher erzählt hat. Er hat einen Übersetzer, aber ich habe das Gefühl, dass ich vieles nicht mitbekomme.«
In der Oper führte ein Platzanweiser sie zu ihren Sitzen in der ersten Reihe des zweiten Rangs. Ernst Wasmuth, ein lächelnder, beleibter Mann mit einem hochgezwirbelten, braunen Schnurrbart, sprang auf und küsste Mamah die Hand. Er stellte sie seiner Frau vor, die neben ihrem dicken Grinse-Kater einer unauffälligen grauen Maus glich. Mamah nahm auf dem Sitz am Ende der Reihe Platz, Frank neben Wasmuth.
Als die Beleuchtung im Saal gedämpft wurde, drehte sie sich um und sah sich das Publikum an. Schultern und Hälse der in Samt, Seide und Federn gekleideten Frauen schimmerten sanft in der Dunkelheit. Manche der Frauen hatten einen Fächer, und es sah aus, als trügen sie kleine Flügel vor ihrer Brust. Die Männer beugten sich vor, und ihre gestärkten Hemden leuchteten im Kontrast zu ihren schwarzen Jacketts.
Sie hatte Mefistofele noch nie gesehen, wusste aber, dass es sich um eine Variation des Faust-Themas handelte, einThema, das sie als Oper und als Theaterstück gesehen und im College übersetzt hatte. Sie wäre auf der Straße am liebsten umgekehrt, als Frank ihr davon erzählte. Es war keine gute Idee, ausgerechnet diese Oper zu besuchen.
Als der Vorhang sich endlich hob, stand der riesige Chor – mindestens hundert Sänger – bereits auf der Bühne. Der weißgewandete himmlische Chor sang »Ave Signor!« – Heil Dir, Gott! Engel und Büßerinnen und ein Chor seliger Knaben mit weißen Federn an Schultern, Armen und Fingerspitzen füllten die Bühne, und ihre Stimmen erklangen zu einem einzigen klingenden »Ave!«.
Mamah hatte das Gefühl, sich in einer riesigen Kathedrale zu befinden, wo ihre Seele von den schmerzlich süßen Kinderstimmen himmelwärts getragen wurde.
Dann trat ohne Vorwarnung Mefistofele zwischen sie. Halb in einen roten Umhang gehüllt und die anderen weit überragend, gab Schaljapin mit seinem nackten Oberkörper und den kraftvoll spielenden Armmuskeln ein bedrohliches Bild ab.
»Kennst du den Faust?«, sang der Herr.
»Fürwahr! Er dient euch auf besondre Weise. Nicht irdisch ist des Thoren Trank und Speise«, donnerte Mefistofele. »Ihn treibt die Gärung in die Ferne.« Der Teufel warf den Kopf in den Nacken und lachte verächtlich. »Welch schwache Kreatur! Ich werde ihn zu locken verstehen.«
Mamah übersetzte Frank flüsternd die ersten Zeilen. Sie beugte sich vor, als Mefistofele mit Gott um die Seele des Professors rang.
»E sia.« So sei es, sang der Herr.
Inmitten eines ländlichen Festes wirkte der gelehrte alte Faust zwischen den vielen schönen, jungen Feiernden verbraucht, genau wie in allen anderen Versionen dieser Geschichte. Ein dickbäuchiger Tenor sang die Rolle des Faust.Und was für einen Faust! Seine Stimme bildete einen aufregenden Kontrapunkt zu dem dröhnenden Basso profundo des Mefistofele.
Ja, er war in Versuchung zu führen, ganz leicht sogar. Ohne großen Widerstand zu leisten. Mamah wusste sehr gut, womit Faust in Versuchung geführt würde, und der Tenor sang es mit ergreifender Stimme.
Wenn Du hienieden
Mir schenktest, was mir fehlet:
Den wahren, innern Frieden,
Enthüllst du mir Wahrheit
Schaffst meinem Geiste Klarheit,
Wenn einst ich sage
Zum flücht’gen Augenblicke:
Wie bist du schön! Verweile!
Dann mag ich sterben
In der Hölle verderben
Die Wette biet’
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