Kein Blick zurueck
allein sein. Glücklicherweise war Frank im Hotel gewesen, hatte sie in Empfang genommen und versucht, sie zu trösten. Er hätte ihr gerne stundenlang zugehört, aber er hatte Mattie nicht gekannt. Wie hätte er es verstehen können? Ihm zu viel von ihrer Trauer aufzubürden wäre außerdem unfair gewesen. Das Hotelzimmer war ohnehin bereits von Sorgen überschattet. Das Projekt schritt zu langsam voran. In einem fort kamen Briefe von Catherine und seiner Mutter bei Wasmuth an. Und dann geisterte da das Gespenst von Edwin herum, der jeden Moment an die Tür klopfen und Gott weiß was für eine Szene machen könnte. Das hieß, falls er tatsächlich in Berlin war.
Bis dato konnte man ihren Aufenthalt in Berlin gewiss nicht als ein spirituelles Abenteuer bezeichnen, wie Frank es sechs Monate zuvor heraufbeschworen hatte. Noch ähnelte er dem, was Mamah sich darunter vorgestellt hatte. Als sie in den Zug nach New York gestiegen war, hatte sie eigentlich erwartet, ein Gefühl der Erleichterung darüber zu empfinden, dass das, was sie sich so herbeigesehnt und um dessentwillen sie sich solche Sorgen gemacht hatte, endlich seinen Anfang nahm , und sie sich aus einem Tunnel der Unentschlossenheit endlich zum Licht bewegte.
Zum jetzigen Zeitpunkt jedoch war gar nichts klar, außer dass sie an einem ruhigen Ort ein paar Stunden für sich allein haben wollte. Frank arbeitete an einem provisorischen Zeichentisch vor dem großen Fenster. Wenn er im Zimmer war, war er sehr präsent.
Mamah hatte das Bedürfnis, sich von Mattie zu verabschieden, auf irgendeine Weise an ein Wiedersehen zu glauben . Doch es gab keinen reglosen Körper, von dem sie sich hätte verabschieden können. Matties Wangen waren nicht rosiggewesen, als Mamah sie verlassen hatte. Doch auch nicht fahl.
In den vergangenen drei Tagen hatte Mamah unablässig versucht, sich eine Vorstellung davon zu machen, was passiert sein könnte. Herzerkrankung mit Beteiligung der Lunge . Was bedeutete das? Die Zeitungen schrieben nie Gestern wieder Frau bei Geburt verblutet . Mattie war nach der Geburt geschwächt gewesen, doch das waren Frauen häufig. Hatte sie irgendwie übersehen, dass Mattie an Boden verlor? War Mamah zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um genau hinzusehen?
Zum hundertsten Male machte sie sich selbst Vorwürfe. Wäre ich da gewesen, wäre ich zu einem besseren Arzt nach Denver gefahren. Ich hätte sie retten können.
Es nützte nichts mehr. Nichts. Sie musste an eine gesunde und muntere Mattie denken und durfte nicht zulassen, dass ihre furchtbaren Schuldgefühle sich über jede Erinnerung legten wie ein körniger Film. Sie wollte auf irgendeine Weise Matties Leben würdigen, wenn auch nur in Gedanken.
Das Gesicht tief in die Wolle vergraben, weinte und lachte Mamah mittags in der leeren Kirche in ihren Schal. Nun, Mattie, deine Haare waren eine Katastrophe, das kann ich jetzt zugeben. Mamah erinnerte sich, wie ihre Freundin versucht hatte, ihren dichten Schopf mit einer Bürste zu bändigen und ihn in eine modische Frisur zu verwandeln. »Wie kommt es«, hatte sie einmal gestöhnt, »dass sich immer jemand zu der Frage bemüßigt fühlt: ›Oh, ist es windig draußen?‹, sobald ich ein Zimmer betrete?«
Mamah erinnerte sich an den Sommer unmittelbar nach ihrem Examen. Sie hatten beide Stellen als Lehrerinnen in Port Huron ergattert und ihre Habseligkeiten in eine dortige Pension expediert. Aus einer Laune heraus und in derHoffnung, neue Freundinnen zu gewinnen, hatten sie in jenem Juni eine Versammlung der örtlichen Frauenbewegung besucht. Als sie dort ankamen, war eine Frau gerade dabei, Flugblätter zu verteilen. Kommen Sie nach Colorado und helfen Sie uns bei der Einführung des gesetzlichen Frauenwahlrechts – so lautete die Kernaussage. Mamah erinnerte sich an einen Satz aus diesem Flugblatt: Die Ernte ist groß, doch Arbeiter gibt es nur wenige. Am Ende des Abends hatten sie als Unterstützerinnen der Kampagne ihre Unterschrift geleistet. Das bot ihnen die Möglichkeit, ihre Helden sprechen zu hören – Frauen wie Elizabeth Cady Stanton oder Carrie Chapman Catt, sogar ein Vortrag von Frederick Douglass war geplant. Nach dem einmonatigen Examen lag in der Aussicht auf ein spannendes Abenteuer auch eine gewisse Anziehungskraft. Ein paar Wochen später gingen sie in Denver von Haus zu Haus und verteilten Streitschriften. Die Organisatoren hatten sie in der Wohnung einer freiwilligen Helferin untergebracht. Einer
Weitere Kostenlose Bücher