Kein Blick zurueck
nicht sehen?«
»Wer? Und kümmert mich das?«
Im Restaurant lächelte Frank sogar. »Bringen Sie uns alles, was Sie haben«, sagte er, als der Kellner an ihren Tisch trat. Frank deutete auf die vielen Angebote auf der Speisekarte. Der junge Mann kam mit Frühstücksflocken, Käse, Brötchen und einer Platte mit hauchdünn geschnittenem, marmoriertem Fleisch zurück.
»Zuerst können wir in Potsdam Station machen. Ich möchte es gerne sehen. Und dann mit dem Zug an den Rhein weiterfahren. Es ist nicht das allerbeste Wetter, aber Dorn sagt, wir sollten ihn gesehen haben. Dann fahren wir mit dem Schiff von Köln nach Koblenz. Ich möchte gerne einen kleinen Umweg über Darmstadt machen, um Olbrich zu treffen, wenn das möglich ist. Man hat mir gesagt, seine Arbeit sei es wert, besichtigt zu werden. Von dort geht’s weiter nach Paris.« Frank machte sich mit Appetit über sein Frühstück her.
Sie starrte ihn ungläubig an. Frank sprach von ihrer Abreise aus Berlin, als gingen sie auf fröhliche Urlaubsfahrt.
Frank prostete ihr mit seinem Orangensaft zu. »›Wahrhaftigkeit im Angesicht der Welt‹«, sagte er grimmig und trank seinen Saft. »Ein passender Wahlspruch, nicht wahr?«
Kapitel 22
Dezember 1909 Nancy, Frankreich.
Ich habe Magenschmerzen, die Frank als Grippe deutet. Ich weiß es besser. Die Verzweiflung schlägt mir auf den Magen. Er sagt, in ein paar Tagen, wenn es mir wieder gutgeht, fahren wir nach Paris. Dann können wir, jeder für sich, entscheiden, was wir tun wollen. Doch wie soll ich mich je wieder wohlfühlen?
Franks Mutter schrieb in ihrem Brief, die kleine Catherine sei wegen des »Skandals« von ihrer Schule relegiert worden. Franks Zorn ist mörderisch. Er ist verletzt durch diese Misere, und dochgibt es etwas in ihm, einen steinharten Kern, der es ihm erlaubt, weiterzumachen. Er findet Zuflucht in seiner Arbeit.
Letzte Nacht lag ich wach und machte mir verzweifelte Sorgen um die Kinder. Wie sehr ich mir wünsche, einfach nach Hause zurückzukehren und sie in die Arme zu nehmen. Wie sehr ich mir wünsche, nichts von all dem wäre je geschehen. Ich bete, dass Louise durchhält. Es gibt keine bessere Türhüterin.
Ich lebe von Stunde zu Stunde und staune, wie schnell der Mut mich verlassen hat.
»Grässlich«, murmelte Frank. »Sentimentaler, dekadenter Mist. Was ist los mit diesen Leuten?« Nach einem einsilbig eingenommenen Abendessen waren sie durch die Straßen Nancys geschlendert und hatten sich die Jugendstilarchitektur angesehen. Jetzt standen sie vor einem überladenen Haus im Art-nouveau-Stil, dessen Fassade mit ihren geschwungenen, an schwer gewordene Augenlider erinnernden Fensterstürzen Mamah an das Gesicht eines Zwergs erinnerte. Ein promenierendes Paar blieb stehen, um herauszufinden, was es war, das Frank sich da ansah, und was ihn so verärgert mit seinem Spazierstock auf den Asphalt klopfen beziehungsweise in die Luft stechen ließ. »Hundescheiße«, höhnte er.
Der Mann blickte verwirrt zwischen dem Haus und Frank hin und her. Doch die Frau verstand offensichtlich, was er sagte, schlug ihren Kragen hoch und zog ihren Mann weiter.
Mamah war für die Existenz dieses hässlichen Hauses dankbar, denn es bekam nun die ganze Wucht von Franks Wut zu spüren. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie entsetzt gewesen, wenn Frank in Chicago vor einem teueren Haus gestanden und es für Schund erklärt hatte. Wie belanglos diese Art von Peinlichkeit heute schien.
Sie ging weiter, und er kam ihr nach und ließ seinen Blickdabei herausfordernd die Straße entlangschweifen, als erwartete er eine weitere visuelle Attacke. Mamahs Blick fiel auf ein Flugblatt, das an der Wand eines Zeitungskiosks befestigt war. »Ellen Key« stand da in großen Lettern als Überschrift. Der Name war ihr bekannt; einige Jahre zuvor hatte sie ein Buch dieser schwedischen Feministin gelesen, an dessen Titel sie sich jedoch nicht mehr erinnerte.
Mamah nahm das Flugblatt ab. »Sie spricht hier am Mittwochabend.«
»Wer ist Ellen Key?«
»Sie ist eine bedeutende Persönlichkeit in der europäischen Frauenbewegung. Lass mal sehen. Sie spricht über…« Mamah übersetzte, dabei bewegte sie die Lippen und folgte mit dem Finger den Wörtern in jeder Zeile. »Die Moral der Frau, die Freiheit der Liebe, freie Scheidung und ein neues Eherecht.«
»Meinst du, sie weiß, dass wir in der Stadt sind?«
Mamah versuchte ein Lächeln. »Ich will sehen, ob ich eines ihrer Bücher auftreiben kann.«
In einer
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