Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
Vom Netzwerk:
Buchhandlung nicht weit von ihrem Hotel entfernt fand sich eines, Liebe und Ehe . Französische, englische und deutsche Ausgaben lagen in Stapeln nebeneinander. Beim Durchblättern erkannte sie, dass es sich in jeder Sprache um schwere Kost handelte.
    Sie fand Frank bei den Kunstbüchern. »Der Text ist sehr dicht, auf verschwommene, professorale Art«, sagte sie. »Aber hör zu.«
    Frank lehnte sich mit gesenktem Kopf an ein Bücherregal und hörte konzentriert zu, während Mamah vorlas.
    »›Große Liebe, wie großes Genie, kann niemals eine Pflicht sein: Beide sind großmütige Geschenke des Lebens an die Auserwählten. Es kann keinen anderen moralischen Maßstab geben für den,der mehr als einmal liebt, als für den, der nur einmal liebt: den der Erhöhung des Lebens. Der, der eine neue Liebe gefunden hat, hört das Singen der ausgetrockneten Quellen, fühlt, wie der Saft in die abgestorbenen Zweige schießt, spürt die Erneuerung der schöpferischen Kräfte des Lebens; jemand, der aufs Neue zu Großmut und Wahrhaftigkeit angehalten ist, zu Sanftheit und Großzügigkeit, jemand, der in seiner neuen Liebe sowohl Kraft als auch Rausch, sowohl Nahrung als auch ein Festmahl findet – dieser Mensch hat ein Recht auf diese Erfahrung.‹«
    Sie blickte auf und sah, dass Franks Augen auf sie gerichtet waren.
    »Habe ich dir das je gesagt?« Sein Blick war zärtlich.
    »Was gesagt?«
    »Dich zu finden war, wie einen Platz zu finden, an dem ich wieder in Sicherheit denken kann. Bevor ich dir begegnet bin, hatte ich das Gefühl, am Zeichentisch fliegen zu können, doch ich kehrte immer wieder in das äußerst statische Gefängnis meiner Ehe zurück. Dir zuliebe möchte ich ein besserer Mann sein. Ein besserer Künstler.« Er legte seine Hand in die ihre. »Ich wäre ein sehr trauriger Mann, wenn es nie dazu gekommen wäre.«
    »Ich danke dir.« Sie legte seine Hand an ihr Gesicht und führte sie an ihre Lippen.
    »Welche Ausgabe soll es denn sein?«
    »Die englische, schätze ich. Kaufst du sie für mich?«
    »Ja.«
    Im Hotel saß sie stundenlang in ihrem Zimmer und las Liebe und Ehe . So vieles von dem, woran sie glaubte, stand unmittelbar dort auf diesen Seiten. Bei der Lektüre dieses Buches hatte sie von Anfang an das Gefühl, dass Ellen Key sich nicht in eine Schublade stecken ließ. Mit dem Wahlrecht gab sich diese Frau, im Gegensatz zu anderen Feministinnen, garnicht erst ab; sie sah darin ein Recht, das sie, ohne weiter darauf einzugehen, voraussetzte. Sie war keine Emma Goldman, keine sozialistisch angehauchte Feministin von der Art einer Charlotte Perkins Gilman und keine Aufrührerin wie Emmeline Pankhurst. Auch keine subversive Heilige wie Jane Addams. Ellen Key schien eine ganz und gar andere Größe zu sein.
    Ihr Stil gefiel Mamah – er war auf zerstreute Weise kühl und logisch. Sie führte an einer Stelle ein Argument ein und nahm es fünfzig Seiten später in dem Vertrauen wieder auf, dass die Leser, die bei der Stange geblieben waren, ohnehin jene waren, die sie eigentlich haben wollte. Sie schaffte es, einen auf die verschlungenen Pfade ihrer Argumentation mitzunehmen, und hakte einen Einwand nach dem anderen ab, der gegen ihre radikalen Ansichten ins Feld geführt wurde, sodass man schließlich, wenn man bei ihrer Schlussfolgerung anlangte, mit ihr derselben Meinung war.
    Mamah bekam es mit Evolutionswissenschaften, Kirchengeschichte, Soziologie und Anthropologie, schwedischem Brauchtum, der Kritik an George Sand und anderen Romanciers zu tun. An dem langen Nachmittag und in der langen Nacht, während sie Liebe und Ehe verschlang, gab es Momente, in denen sie sich fühlte wie ein Boot, das sich durch hohe Wellen kämpft. Sobald sie die Höhe einer Argumentation erreicht hatte, wurde sie ins nächste Wellental hinabgeschleudert.
    »Es ist komisch«, sagte sie, als Frank etwas zum Abendessen brachte. »Diese Frau ist einerseits konservativ, andererseits absolut radikal.«
    »Wie kommt das?« Er breitete ein Picknick-Abendessen auf dem Fußboden aus. Er war ausgegangen und hatte ein Baguette, Schinken und ein Stück Käse gekauft, die er nun auf Wachspapier ausbreitete. Als er so, im Schneidersitz undmit seinem gewellten, braunen Haar, das er seit der Überfahrt um einiges länger trug, auf dem Fußboden saß, sah er aus wie ein junger Mann.
    »Nun«, sagte Mamah nachdenklich, »einerseits sagt sie, Frauen seien von Natur aus am besten geeignet, Kinder großzuziehen, doch dann fordert sie, dass sie

Weitere Kostenlose Bücher