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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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wäre sie einen Schritt zurückgetreten und könne ihre Situation von außen betrachten. In manchen Augenblicken konnte sie sich sogar vorstellen, dass alle, die in diese Situation verstrickt waren – Edwin, Catherine, die Kinder –, eines Tages wieder glücklich würden.
    Es erschien gefühllos, ihre öffentliche Demütigung mit dem Elend der verzweifelten Pariser zu vergleichen. Und doch war da die Allegorie von der Flut, die man sich zu eigen machen konnte, wenn man nach einer Perspektive suchte.
    Am 30. Januar verkündeten die Zeitungen, dass der Belagerungszustand zu Ende sei. Die Pariser ruderten im Sonnenschein und feierten. Als später die Ankündigung kam, dass die Züge wieder fahrplanmäßig verkehrten, eilte Mamah zum Bahnhof, um sich eine Fahrkarte zu kaufen.
    Auf dem Bahnsteig hielt sie in dem Getümmel aus Menschen und Gepäckstücken ein kleines Köfferchen fest unter den Arm geklemmt. Darin befanden sich die handschriftlichen Übersetzungen von The Morality of Woman , The Woman of the Future und The Conventional Woman . Sie empfand einen heftigen Beschützerinstinkt; sie stellte sich vor, dass Frank sich ähnlich fühlte, wenn er die Mappe mit seinen Zeichnungen mit sich herumtrug – wie ein Bote mit einem Entwurf, der die Welt verändern würde.
    Der Zug bewegte sich im Schneckentempo durch Frouard, Commercy, Bar-le-Duc und Vitry-le-François, ehe er für vier
    Stunden in Châlons-sur-Marne stehen blieb. Mamah kaufte sich in der Nähe des Bahnhofs bei einem Mann mit einem Karren etwas zu essen, dann stieg sie wieder in den Zug und schlief ein. Als sie erwachte, war sie schon beinahe in Paris. Als sie durch die östlichen Vororte fuhren, sah sie verwüstete kleine Dörfer, in denen Ruderboote auf Gartentoren hingen und Leitern zu den Fenstern im zweiten Stock hinaufragten.
    Der Zug fuhr schlingernd an verschlammten Wiesen mit schwärzlich-braunem, verfilztem Gras vorbei. Vor sich in der Ferne konnte Mamah auf einer Weide verstreut herumliegende große Umrisse ausmachen. Als der Zug näher kam, stellte sie fest, dass es sich um die aufgedunsenen Kadavervon Kühen handelte. Ein Stück weiter wirkte ein kleiner Friedhof, als wäre dort das Unterste zuoberst gekehrt worden. Grabsteine und leere Särge lagen auf einem nahe gelegenen Acker. Ihr Blick fiel auf etwas, das aussah wie der Arm einer Leiche, der aus einer hölzernen Kiste herausragte.
    Im Zug machte sich Bestürzung breit, als die Fahrgäste hierhin und dorthin liefen, um besser sehen zu können. »Jesu Christe!« , weinte eine alte Frau auf einem Platz in der Nähe. »Die Toten wurden aus ihren Gräbern gerissen.«
    Doch die Ruhe, die Mamah in Nancy empfunden hatte, hielt an. Die Sonne, die durch die grauen Wolken brach, tauchte die Szenerie vor ihrem Fenster in ein hartes Licht. Sie empfand sogar eine noch größere Klarheit als zuvor, als sähe sie alles, sogar sich selbst, aus einer gewissen Distanz. Wie klein wir Menschen sind, dachte sie. All unser Gezappel, mit dem wir versuchen, uns gegen den Tod zu stemmen. All die Mühe, mit der wir uns mit Hilfe von Anstandsregeln und sinnloser Geschäftigkeit gegen das Ungewisse abzuschirmen versuchen.
    Wie belanglos das alles schien, wo das Leben doch so kurz und kostbar war. Ein nicht wahrhaftiges Leben zu führen schien eine so feige Art und Weise, seine Zeit zu nutzen. Sie dachte, dass ihr das Leben, ungeachtet all der Schwierigkeiten, die es ihr zugeteilt hatte, noch mehr außergewöhnliche Geschenke gemacht hatte. Martha und John waren solche Geschenke. Und dann, eigentlich aufgrund eines Zufalls und in der falschen Reihenfolge, hatte das Leben ihr noch eine andere Liebe zugeteilt, die sowohl erotisch als auch kraftspendend war. Frank zu umarmen, dieses Geschenk anzunehmen, erschien ihr wie eine Bestätigung des Lebens.
    Wie könnte sie die tiefsten Lieben ihres Lebens miteinander versöhnen? Sie schaute aus dem Fenster und versuchte, sich eine Zeit in der Zukunft vorzustellen, wenn sie dieseSichtweise ihren Kindern erklären könnte. Sie würden erwachsen sein müssen, um es zu verstehen. Doch sie glaubte, sie würden erkennen, dass ihre Entscheidung, ihren Vater zu verlassen, kein grausames Sichgehenlassen bedeutet hatte, dazu angetan, sie unglücklich zu machen. Sondern vielmehr ein Akt der Liebe zum Leben.
    Mamah erinnerte sich an eine Zeile aus Die Natur: Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat.
    Irgendwie würde sie dieses furchtbare Chaos für die Kinder in eine Wohltat verwandeln.

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