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Kein Blick zurueck

Kein Blick zurueck

Titel: Kein Blick zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Horan
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Sie glaubte daran, dass es möglich sei, dass sie sich eines Tages von all der Liebe, die sie umgab, bereichert fühlen würden. Menschen mit Kindern ließen sich scheiden und heirateten erneut; es bedeutete für sie nicht das Ende der Welt. Martha und John könnten schließlich sogar besser dastehen, mit vier glücklichen Eltern.
    Mamahs ganzes Leben schien in diesem Moment aus einem Guss zu sein. Die Arbeit für Ellen Key war nur ein weiteres Indiz ihres inneren Impulses, der wie eine Pflanze wuchs und gedieh und sich nach dem Licht reckte. Mit jedem Wort, das sie übersetzte, wandte sie sich mehr der Liebe und dem Leben zu.
    Die lauten Gespräche dämpften sich zu einem Flüstern, als der Zug in die Stadt einfuhr. Mamahs Blick fiel auf eine Uhr, die um 10:50 stehen geblieben war. Dann sah sie noch eine und noch eine. Sämtliche öffentliche Uhren in Paris waren zur selben Zeit stehen geblieben und bezeichneten damit einen gespenstischen Augenblick, in dem der Fluss alle Fahrpläne hatte obsolet werden lassen. Das Befremdliche dieser Szenerie riss sie aus ihren Tagträumen.
    »Champs-Elysées Plaza!«, sagte sie, als sie ins Taxi stieg. »Bitte schnell.«
    Im Hotel ließ sie in der durchweichten, stinkenden Halle mitAusnahme des Köfferchens alle Taschen fallen und rannte die Treppen hinauf in den dritten Stock. Sie stolperte über ihren schweren Mantel und blieb stehen, um ihn auszuziehen. Sie klopfte an Zimmer 15 und wartete.
    Die Tür ging auf, und ein unrasierter Frank spähte heraus in den dunklen Flur.
    Sie seufzte auf, als sie ihn sah. »Danke, danke!«
    »May-mah!« Er lachte und hob sie hoch in eine mächtige Umarmung. »Was für ein wundervoller Anblick.«
    »Ich wäre früher gekommen, wenn es möglich gewesen wäre.«
    »Ich habe das Schlimmste nicht mitbekommen. Ich bin aufs Land gefahren, als der Fluss über die Sandsäcke stieg. Ich bin erst gestern zurückgekehrt.« Er zog sie ins Zimmer. »Sei vorsichtig, wo du hintrittst.«
    Sie gingen auf Zehenspitzen zwischen den Zeichnungen hindurch, die auf dem Fußboden ausgebreitet waren. Frank benutzte den Deckel seiner Mappe auf dem Teppich als Zeichenbrett. Ein halb gegessener Laib Brot lag auf der Kommode, neben einem Apfelstrunk und einem Krug Wasser. Sie setzten sich auf das Bett.
    »Ich dachte mir, dass es dir gutgeht«, sagte sie, »doch als wir in die Nähe von Paris kamen, wurde mir angst und bange…«
    »Aber ich bin in Sicherheit. Alles ist in Ordnung.« Er schlang den Arm um ihre Schultern.
    »– und ich dachte, Was täte ich, wenn dir etwas passiert wäre? Mein Leben ginge zu Ende.«
    »Du zitterst ja«, sagte er. »Hier, leg dich hin.« Er breitete eine Decke über das Bett.
    Mamah ließ sich in die Kissen sinken und spürte, wie die Anspannung in ihrem Körper verebbte. Das Licht fiel durch die Sprossenfenster und warf ein Schattenmuster auf diegraue Tapete, die mit Urnen und Weinranken bedruckt war. Die Stille in der Stadt fiel ihr auf. Vom Bürgersteig waren weder Pferde noch Wagen oder eine Stimme zu hören.
    Es gab so vieles, das sie Frank erzählen musste, doch sie hatte damit keine Eile. Sie schlang die Arme um ihn, zog ihm am Rücken das Hemd aus dem Hosenbund und ließ ihre Hände daruntergleiten, um die heiße Fläche seiner Haut zu spüren. Ihre Hände bewegten sich langsam nach vorne zu seiner Brust, und sie fühlte unter ihren Fingerspitzen sein Herz hinter den Rippen und das Spannen und Entspannen der Muskeln. Sie presste ihren Mund auf seinen Hals und seine Brust und erkundete ihn dankbar und ohne Scheu. Es war, als wären sie die ersten Liebenden, als wären Worte im Vergleich völlig sinnlos.
    »Ich bin kurz vor dem Verhungern.« Frank war wach und zog sich an. Sie hielt ihm die Hand hin, und er zog sie hoch. Als sie sich bereitmachten, das Zimmer zu verlassen, nahm er sein Cape und setzte sich ein flottes Beret auf den Kopf. »Du siehst wunderbar aus«, sagte sie ein wenig verwirrt. »Ich habe an der Place Vendôme einen Hutmacher gefunden«, sagte er. »Dieser Mann kann alles.«
    Draußen auf der Straße verlieh die tief stehende Sonne den Fassaden und Gesichtern einen gelblichen Schimmer. Mamah ging auf einen Passanten zu und erkundigte sich nach einem Café, das geöffnet hatte. Sie gingen acht oder neun Querstraßen weiter, bis sie auf das kleine Lokal mit den leuchtend weißen Fliesen stießen. Lediglich der Geruch nach Bleiche deutete darauf hin, dass vor ein paar Tagen noch überall Schlamm und Wasser gestanden

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