Kein Blick zurueck
pochte. »Natürlich tue ich das.«
»Die Universität Leipzig hat ein sehr gutes Sprachenprogramm. Ich kann Ihnen ein kleines Stipendium auszahlen, während Sie sich so schnell wie möglich an die Arbeit machen. Zumindest genug, um zu essen.« Ellen Key kritzelte ihren Namen und ihre Adresse auf ein Stück Papier. »Hier«, sagte sie, »schicken Sie mir Ihre Übersetzung. Und lassen Sie mich wissen, was Sie vorhaben.«
Kapitel 25
ERWARTE DICH,
CHAMPS-ELYSÉES PLAZA, ZIMMER 15.
FLW 19. JAN. 1910
Die Knappheit von Franks Telegramm sprach Bände: Ohne sie fühlte er sich jämmerlich. Sie würde sich noch einen vollen Tag geben und dann am Freitag zu ihm fahren. Sie vermisste ihn, doch Nancy zu verlassen war das Letzte, was sie jetzt wollte. In ihrem Hotelzimmer zu sitzen und Ellens Essays zu übersetzen hatte ihr zu mehr verholfen als nur zu ihrem Seelenfrieden. Sie hatte ihr seelisches Befinden in Tinte gefasst gefunden.
Beim Übersetzen wanderten Mamahs Gedanken immer wieder zu ihrem Vater. In den Monaten, in denen sie und Edwin mit ihm in dem alten Haus gewohnt hatten, hatte er oft in seinem Arbeitszimmer gesessen und im Neuen Testament gelesen, eine Angewohnheit, die er zu Lebzeiten ihrer Mutter noch nicht gehabt hatte. Von Zeit zu Zeit warer in Hausschuhen aus dem verrauchten Arbeitszimmer geschlurft gekommen und hatte, Selbstgespräche murmelnd, vor sich hin genickt. Mamah hatte angefangen, sich in ihrem Hotelzimmer ganz ähnlich zu verhalten.
Gerade an diesem Morgen hatte sie versucht, Ellen Key einen Brief zu schreiben, um sich bei ihr zu bedanken. Sie wollte ihr sagen, dass sie wahrhaftig verstand . Dass sie dankbar wäre, Ellens Ideen nach Amerika zu bringen, ungeachtet einer Entlohnung. Und doch wirkte jedes Wort schlecht gewählt. Sie strich den Satz Sie haben mein Leben gerettet durch. Er würde die Frau wahrscheinlich abschrecken.
Als Mamah am Freitagmorgen zu Fuß zum Bahnhof aufbrach, brachte ein kalter Nieselregen die dünne Schneedecke auf der Straße zum Schmelzen.
»Möchten Sie nach Paris?«, fragte sie ein Mann, als sie sich am Fahrkartenschalter in die Schlange einreihte.
»Ja.«
»Machen Sie sich nicht die Mühe zu warten. Es gehen keine Züge nach Paris, dort droht eine Überschwemmung. Teile der Stadt stehen bereits unter Wasser. Die Bahnhöfe sind alle geschlossen.«
»Aber am Mittwoch erhielt ich ein Telegramm…«
Der Mann zuckte die Schultern. »Es kam ganz plötzlich. Die Seine hat die Untergrundbahnen gefüllt, und der Strom ist ausgefallen. Alles ist unterbrochen. Man kann nicht einmal abschätzen, wann die Züge wieder fahren werden.«
»Kennen Sie das Champs-Elysées Plaza?«
»Ja«, sagte der Mann. »Es ist neu.« Er schüttelte den Kopf. »Es liegt unweit von der Seine entfernt.«
Ein Zeitungsjunge bot Zeitungen mit der Schlagzeile ÜBERSCHWEMMUNGEN ! feil. Sie hatte sich in ihrem Hotelzimmer verkrochen und nichts mitbekommen.
Frank weiß sich zu helfen, dachte sie; eine Überschwemmung wirdihn nicht aus der Fassung bringen. Beide hatten sie immer wieder den Des Plaines in der Nähe von Oak Park über die Ufer treten sehen. Wenn er sich plagen müsste, dann, weil er allein war und seine Arbeit ein weiteres Mal unterbrochen wurde.
Ohne Telegramme und Züge gab es keine Wahl. Sie würde in Nancy warten und weiterarbeiten. Sie kehrte ins Hotel zurück und räumte die zusammengefalteten Kleider wieder in den Schrank.
Am Mittwochmorgen peitschte der Regen wütend auf die Bürgersteige. Fünf Tage waren seit den ersten Berichten über die Flut vergangen, und der Himmel setzte sein Sperrfeuer fort. Beim Frühstück fing sie den Blick eines Geschäftsmannes auf, der eine Zeitung bei sich hatte und die Frage in ihrem Blick ablas. Er schüttelte den Kopf. »Das Wasser steigt weiter«, sagte er. »Es hat mehrere Todesfälle gegeben.«
Sie kaufte eine Zeitung, setzte sich in die Hotelhalle und studierte die kleine Landkarte auf der Titelseite, auf der die Seine abgebildet war, die von Südosten her in einem Bogen die Stadt umfloss. Die Lage hatte sich deutlich verschlimmert. Der Keller des Louvre stand voller Wasser. Ein Foto des Gare d’Orsay zeigte einen Swimmingpool, die Lokomotiven ragten aus dem Wasser wie gestrandete Schiffe.
Bin ich inzwischen bis zur Blödheit abgestumpft? Mamah war Franks wegen merkwürdig unbesorgt. Ein eigenartiges neues Selbstvertrauen erfüllte sie.
Die Friedlichkeit Nancys hatte sie überrascht. Nach ein paar Tagen fühlte sie sich, als
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