Kein Blick zurueck
Estero, die Frau mit dem freundlichen Gesicht, die für sie kochte, hatte in Fiesole überall Freunde, die willens waren, dem netten Paar aus Amerika zu helfen.
»Ist es weit?«
»Wir können zu Fuß gehen. Ich sehe mal nach, ob sie es möglich machen kann, dass man uns einlässt.«
»Um elf«, rief er, als er ins Untergeschoss hinunterging, wo er sein Studio hatte.
Die Tage verliefen gleichförmig, nach dem von Sonnenaufgang und Mittagsmahl vorgegebenen Rhythmus. Gegen acht Uhr dreißig waren sie beide auf ihren Posten, auch wenn Mamah an manchen Vormittagen ins Studio schlüpfte, um Frank und Taylor Woolley dabei zuzusehen, wie sie ihre Federkiele in die Tinte tauchten und damit auf dünnem Papier behutsam Zeichnungen nachzogen.
Sie tat ihre Arbeit im kleineren der beiden Gärten, die zum Haus gehörten, wo sie von einer Laube geschützt war, die sich, von gelben Rosen überwuchert, am Rand der Terrasse entlangzog. An der Wand, die sie von einem furchterregenden Abgrund trennte, stand ein runder Gartentisch, von dem aus sie einen Ausblick hatte über die roten Ziegeldächer von Florenz.
Sie ließ sich mit der Übersetzung von Liebe und Ethik Zeit. Sie experimentierte mit den Sätzen, konsultierte ihr Wörterbuch, formulierte und formulierte wieder neu. Sie wollte dieser Arbeit gerecht werden und sie richtig hinbekommen. Wenn es ihr gelang, die deutsche Übersetzung von Ellens Klugheit auf dem Papier in elegante, überzeugende englische Sätze zu verwandeln, geriet sie in einen Zustand, der der Ekstase gleichkam.
Sie verbrachte ihre Zeit so oft es ging im Freien, und an manchen Vormittagen ließ sie ihre Übersetzung ruhen und wanderte die Via San Francesco hinauf zu der alten Kirche und dem Kloster oben auf dem Berg. Dieser Ort war eines von einem Dutzend Zielen, auch wenn ihre Wanderungen durch die mit Klatschmohn bestandenen Wiesen alle auf gleiche Art zu enden schienen. Sie fand eine Stelle, an der sie sich hinsetzen konnte und von der sie einen Rundblick über die Hügel hatte, bis sich eine Ruhe über sie senkte, die einer Betäubung glich. Als sich nach Stunden in der Sonne auf der Haut ihres Rückens und ihrer Brust braune Halbmonde abzeichneten, besorgte sie sich einen breitrandigeren Hut.
»Mamah von den Bergen!«, begrüßte Frank sie eines Morgens, als sie mit ihrem weichen, breitkrempigen Wanderhut aus dem Haus in den Garten trat. Von da an war dies sein Spitzname für sie.
Mamahs Ankunft in Fiesole im Juni hatte sich mit Taylor Woolleys Rückkehr überschnitten. Er und Franks Sohn Lloyd hatten im Spätwinter und Frühling an der Mappe gearbeitet, zunächst in Florenz und dann in Fiesole, wo Frank von einer Engländerin, die im Ort mehrere Häuser besaß, Villino Belvedere gemietet hatte. Als Lloyd und Taylor den Großteil ihrer Zeichnungen fertiggestellt hatten, hatte Frank sie beide mit Geld ausgestattet und ihnen für eine Besichtigungstour frei gegeben. Am Ende dieser Tour war Lloyd nach Hause gefahren (vermutlich, um ihr aus dem Weg zu gehen, dachte sie), doch Taylor war nach Fiesole an die Arbeit zurückgekehrt.
Sie lernte Taylor Woolley als einen äußerst liebenswürdigen und taktvollen jungen Mann kennen. Er war ein sechsundzwanzigjähriger Mormonenjunge von zarter Statur mit einem deutlich sichtbaren Hinken. Fünfzehn Jahre lagen zwischenihnen, doch sie fand in dem jungen Architekten aus Salt Lake einen geeigneten Begleiter auf ihren Wanderungen durch die Hügel.
Häufig nahmen sie zu dritt die Straßenbahn in die Stadt hinunter, um die großen Kathedralen zu besichtigen. Sie verbrachten ganze Tage in den Uffizien und betrachteten dort die Statuen Donatellos und Michelangelos, Gemälde der Jungfrau aus dem dreizehnten Jahrhundert, Porträts rotgewandeter Kardinäle vor dem Hintergrund toskanischer Landschaften. Sie ließen sich auf Bänke fallen und legten den Kopf in den Nacken, um mit Engelsscharen bevölkerte vergoldete Decken zu betrachten, ehe sie dem Museum, von schierer Übersättigung erschöpft, den Rücken kehrten.
Taylor hatte eine kleine Kamera bei sich, die er allerdings selten auf die Florentiner Kirchen richtete. Stattdessen fotografierte er von hoch oben das lockere Flickenmuster der Stadt und fing die Ränder rechteckiger, von Zypressen umstandener Plätze ein. Er war fasziniert von den antiken römischen Straßen und den Häusern, die an Hügeln klebten, die so steil waren, dass die Stufen, die zum Eingang führten, Leitern ähnelten. Mamah begleitete ihn manchmal
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