Kein Blick zurueck
Frühling und dem Versprechen auf ein abendliches Bier.
Ihr Professor, ein überschwänglicher Mann in den Fünfzigern, war ein Bekannter Ellen Keys. Er richtete seinen Unterricht an die dunkelhaarige Frau in der vorderen Reihe, hocherfreut, dass jemand auf seine Fragen reagierte.
Zweimal war Mamah zu Wasmuth nach Berlin gefahren, um zu sehen, wie es um den Druck der Mappe stand, und Frank später von ihren Erkenntnissen zu berichten. Ansonsten lebte sie zurückgezogen in Leipzig und erlaubte sich kaum Annehmlichkeiten. Ihr Vergnügen bestand darin, immer fließender Schwedisch zu sprechen.
Als sie Ende Mai ihre Abreise nach Italien plante, erreichte sie ein Brief von Ellen, in dem sie sie zu einem Besuch ihres neuen Hauses am Vätternsee einlud. Mamah formulierte vorsichtig ein Telegramm an Frank, in dem sie ihn ein weiteres Mal um Nachsicht bat.
Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst, antwortete er. Innerhalb weniger Tage war sie unterwegs.
Als sie in Alvastra ankam, wurde sie von einem älteren Herrn abgeholt, dessen Worte dank eines großen Kautabakklumpens in seinem Mund nicht zu verstehen waren. Er fuhr Mamah mit dem Wagen zu Ellens Haus, das unmittelbar über dem Vätternsee lag, dann führte er sie durch die Haustür in einen Flur mit weißen Wänden, einem roten Backsteinfußboden und etlichen rot gestrichenen Türen zu beiden Seiten. Unter der Decke zog sich ein in Schablonenmalerei gefertigter Fries einer grünen Girlande entlang. Über der Haustür standen in roten Buchstaben die Worte MEMENTO VIVERE zu lesen. Denk daran, zu leben.
In diesem Augenblick wurde Mamah beinahe von einem Bernhardiner über den Haufen gerannt, der vom Ende des Flurs auf sie zusprang.
»Wild«, sagte Ellen Key, als sie sah, dass Mamah sich die nassen Hände an ihrem Rock abwischte. »So heißt er. Er ist ein liebevoller Kerl, aber er sabbert.« Ellen umarmte sie herzlich. »Willkommen in Strand, meine Liebe. Jetzt schreiben Sie sich in mein Gästebuch ein. Sie sind eine der Ersten.«
Dass eine Frau für sich selbst ein solches Haus bauen konnte, war ein Wunder, über das Mamah in den folgenden fünf Tagen immer wieder nachdachte. Sie hatte Ellens Buch Schönheit für alle nicht gelesen, doch sie erkannte in den Zimmern ihre »lichte und gesunde« Ästhetik. Perlgrau gestrichene gustavianische Möbel. Sämtliche Fenster des Hauses der Junibrise geöffnet. Überall Volkskunst.
»Warum haben Sie Ihr Haus Strand genannt?«, fragte sie Ellen, nachdem die junge Haushälterin den Tee gebracht hatte.
»Kommen Sie hier herüber.« Ellen führte Mamah in den Flur und deutete auf eine gerahmte Karte der Vättern-Gegend. In blauen und gelben Buchstaben waren die Worte DÄR LIVETS HAV OSS GETT EN STRAND darüber gemalt:
»›Wo das Meer des Lebens uns einen Strand geschenkt hat‹«, übersetzte Mamah.
»Das ging doch schon sehr gut. Sie haben sehr daran gearbeitet, nicht wahr?«
»Es ist mein ruhiger Strand«, sagte Ellen später. Sie saßen am See auf einer Bank in einem runden Säulenpavillon, der unmittelbar über dem Wasser auf einigen Felsen thronte. Wild lag zu Ellens Füßen. »Es ist so schön hier, besonders am Morgen.« Sie hielt inne und überlegte noch einmal. »Nein, besonders nachts unter dem Sternenhimmel. Nun, Sie werden schon sehen. Ich habe in letzter Zeit oft nachts hier gesessen und mir überlegt, dass ich Strand, wenn icheinmal nicht mehr bin, gerne zu einer Stiftung machen möchte. Ich arbeite gerade an meinem Testament, in dem ich das festlege. Es soll ein Hafen sein für arbeitende Frauen, die Ruhe brauchen. Sie sollen hier Ferien machen können.«
Mamah lächelte. »Bin ich die erste?«
»Ich schätze schon.« Ellen grinste, als gefiele ihr die Idee. »Die letzte Zeit war hart, nicht wahr?«
Auf diese Frage hin schloss Mamah die Augen.
»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte Ellen. »Wir wollen schwimmen gehen.«
Sie zogen Badeanzüge an, schwarze, sackartige Dinger, und schwammen in den Vätternsee hinaus. Mamah ließ sich auf dem Rücken treiben und betrachtete die Wolkenformationen. Hin und wieder sah sie Ellen, die mit gewölbtem, breitem Rücken unter die Wasseroberfläche tauchte und ein paar Sekunden später an anderer Stelle wieder aus dem Wasser schoss wie eine Robbe.
»Bitte, Ellen Key«, rief sie ihrer Freundin zu, »kein Wort mehr von einem Testament. Ich möchte, dass Sie ewig hier leben.«
»Ich werde mein Bestes tun«, rief Ellen zurück.
In den folgenden vier Tagen war Mamah tief
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