Kein Blick zurueck
Denkmustern zu befreien – das sollte Ziel des Kampfes sein.« Ellens Stimme klang erregt. »Was hilft es, wenn eine Frau zwar emanzipiert, aber kaum gebildet ist und nicht den Mut aufbringt zu handeln?«
»Aber es gibt viele Frauen…«, hob Mamah an.
Ellen ignorierte sie oder nahm den Einwurf gar nicht wahr. »Männer wurden seit alters her dazu erzogen, den Mut aufzubringen, etwas zu wagen.« Sie nagte Fleisch von einem Knochen. »Frauen andererseits stecken darin fest, Bewahrerinnen von Erinnerungen und Traditionen zu sein. Wir sind die großen Konservatorinnen. Oh, ich schätze, als Ergebnis sind wir geschmeidiger, denn wir haben gelernt, viele Aspekte zu beachten. Aber um welchen Preis? Es hat uns von Größe abgehalten! Und die meisten Frauen sind glücklich damit, Meinungen und Urteile zu wiederholen, die sie gehört haben, als wären sie selbst darauf gekommen. Das ist gefährlich!« Sie stach mit einem bleichen Knochen in die Luft. »Frauen müssen sich in Evolutionswissenschaften, Philosophie, Kunst auskennen. Sie müssen ihr Wissen erweitern und damit aufhören, gegenseitig ihren Charakter zu zerstören.«
»Für Sie war es ein persönlicher Kampf«, sagte Mamah sanft.
»Neben allen möglichen anderen Gemeinheiten behauptetman über mich, dass ich ein ausschweifendes Leben führe.« Ellens stolzes, rundes Gesicht wirkte plötzlich verhärmt. Die tiefen Furchen neben ihrem Mund verliehen ihr ein verbittertes Aussehen, ähnlich einem alten Schlachtross. »Dabei handelt es sich um eine sehr effektive Methode: mit einem Angriff auf den persönlichen Charakter der Denkerin ihre Ideen abzutöten. Als Resultat davon bin ich gezwungen, ein sehr umsichtiges Leben zu führen.«
Gerda kam ins Zimmer, um ihre Teller abzuräumen, und kehrte mit großzügig bemessenen Stücken Butterkuchen zurück. Ellens ganze Haltung veränderte sich. »Oh«, sagte sie und schlang ihre Finger ineinander wie ein Kind beim unerwarteten Anblick eines Leckerbissens. Mamah pickte an ihrem Nachtisch nur herum und beobachtete Ellen, die genussvoll ihr Kuchenstück verzehrte und mit der Gabel Jagd auf die restlichen Brösel machte.
Mamah empfand Mitleid ob des einsamen Lebens, das Ellen letztendlich führte. Sie durchforschte ihre Gedanken nach einer kleinen Freundlichkeit, die sie ihr sagen könnte. »Sie erinnern mich an Frank«, sagte sie.
Ellens Augenbrauen schossen in die Höhe. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Sie beide haben sich mit Ihren Ideen zur Ästhetik, dazu, wie man ein Heim gestaltet, einen Ruf errungen. Sie beide scheinen mit großem Vergnügen Worte an die Wände zu malen«, sagte Mamah scherzhaft. »Und beide sind Sie in höchstem Maße dickköpfig.«
Ellen Keys derbes Lachen erfüllte den Raum. »Ich werde diesen Mann kennenlernen müssen.«
Am nächsten Morgen machte Mamah sich zur Abreise bereit. Ellen umarmte sie an der Haustür. »Wissen Sie, als Sie hier ankamen, waren Sie gespannt wie ein Bogen«, sagtesie. »Halten Sie Kurs, Tochter. Aber tun Sie sich gelegentlich auch etwas Gutes.«
Mamah kletterte auf den Wagen.
»Und lassen Sie Ihr Bild anfertigen«, rief Ellen ihr zu und winkte. »Ich möchte es für mein Arbeitszimmer.«
Kapitel 27
Die Glocke des Klosters gegenüber Villino Belvedere schlug die volle Stunde, als Mamah den Garten betrat. Es war Teil der morgendlichen Geräuschkulisse Fiesoles, an die sie sich gewöhnt hatte. Über das Pflaster klappernde Pferdehufe, in der Bäckerei ein paar Türen weiter die Backbleche, die auf den Tisch geknallt wurden, irgendwo das Klirren eines Ambosses, das verhieß, dass der Arbeitstag begonnen hatte. Aus der Wohnung auf der anderen Seite des Hauses ertönten die ersten Streicherklänge, als die russischen Musiker, ein Cellist und eine Geigerin, wie jeden Morgen zu üben begannen.
Frank hatte sich mit geschlossenen Augen auf einer Gartenliege ausgestreckt und hielt das Gesicht in die Sonne. »Wieder ein perfekter Tag«, sagte er, als er ihre Schritte hörte.
Frank hatte seit ihrer Ankunft jeden Morgen das Gleiche gesagt, ob das Dorf nun in Nebel getaucht war oder weißglühend unter der Sonne backte. Alles an diesem Ort in den Hügeln gefiel ihm.
»Arbeitest du heute nicht?«, fragte sie.
»Nur ein paar Stunden.«
»Lass uns ein paar alte Gärten besichtigen. Was hältst du davon?«
»Haben wir sie nicht alle schon gesehen?«
»Die Villa Medici haben wir noch nicht gesehen. Estero sagt, dort sei derzeit niemand, und sie kennt den Gärtner.«
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