Kein böser Traum
sich damit zufrieden zu geben. Sie bedankte sich und ging. Ist vielleicht besser so, dachte sie. War eine zu spontane Entscheidung gewesen, sofort wieder herzukommen. Vermutlich hatte sie überreagiert.
In ein paar Stunden kam Jack nach Hause. Sie konnte ihn dann nach dem Foto fragen.
Grace war die Aufgabe zugefallen, die Rückfahrt der Kinder vom Schwimmtraining zu übernehmen. Vier Mädchen im Alter von acht und neun Jahren, alle herrlich lebhaft, verteilten sich auf den Rücksitz und die Notsitze im Kofferraum des Minivans. Fröhliches Gekicher mischte sich mit dem Geruch nach nassen Haaren, Chlor und Kaugummi, dem Geräusch von Schulranzen, die abgenommen wurden, und das Einschnappen der Sicherheitsgurte. Keines der Kinder saß auf einem der vorderen Sitze – neue Sicherheitsvorschriften –, doch trotz des Gefühls, nur Chauffeur zu sein, waren diese Fahrten für Grace ein Vergnügen. Sie gaben ihr Gelegenheit, ihre Tochter in der Gesellschaft von Freunden zu beobachten. Im Auto sprachen die Kinder ganz ungezwungen miteinander. Der oder die Erwachsene hinter dem Steuer hätte ebenso gut in einer anderen Zeitzone existieren können. Für Eltern äußerst informativ. Man hörte, wer »cool« war und wer nicht, wer »in« war und wer »out«, welchen Lehrer man »toll« fand, welcher Lehrer total »blöd« war. Bei aufmerksamem Zuhören erkannte man sogar, welchen Platz das eigene Kind gerade in der Rangordnung einnahm.
Ein Erlebnis ebenso unterhaltsam wie informativ.
Jack machte Überstunden. Als sie nach Hause kamen, bereitete Grace für Max und Emma ein schnelles Abendessen – vegetarische Chicken Nuggets (angeblich gesünder, und in reichlich
Ketchup ersäuft konnten die Kinder den Unterschied sowieso nicht schmecken), Bratkartoffeln und Mais aus der Tiefkühltruhe. Als Nachtisch schälte Grace zwei Orangen. Emma setzte sich an ihre Hausaufgaben – viel zu viel für eine Achtjährige, dachte Grace. In der ersten freien Minute eilte sie den Korridor entlang zum Computer und schaltete ihn ein.
Grace verstand vielleicht nichts von digitaler Fotografie, aber sie war sich der Notwendigkeit, ja sogar der Vorteile von elektronischer Bildbearbeitung und Internet durchaus bewusst. Es gab eine Homepage, auf der ihre Arbeiten vorgestellt wurden, mit Ratschlägen wie man sie erwerben oder ein Portrait in Auftrag geben konnte. Zuerst hatte sie das alles als zu kommerziell abgelehnt. Doch Farley, ihr Agent, hatte sie prompt darauf hingewiesen, dass auch Michelangelo auf Auftrag gearbeitet hatte. Dasselbe galt für Da Vinci und Raphael und eigentlich jeden berühmten Künstler. Und sie sollte sich zu gut dafür sein?
Grace scannte die drei besten Fotos von der Apfelernte zur Sicherheit und beschloss dann, eher einer Laune folgend, das fremde Foto ebenfalls einzuscannen. Anschließend setzte sie die Kinder in die Badewanne. Emma kam als Erste daran. Sie stieg gerade aus der Wanne, als Grace seinen Schlüssel im Schloss der Hintertür hörte.
»Hey!«, rief Jack leise nach oben. »Irgendwelche liebestollen Mädels da oben, die auf ihren Lieblings-Hengst warten?«
»Die Kinder«, antwortete sie. »Die Kinder sind noch auf.«
»Oh!«
»Kommst du rauf?«
Jack polterte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herauf. Das Haus erbebte. Er war ein großer, kräftiger Mann. Sie liebte diese Masse Mann neben sich im Bett, liebte es, wie sich seine mächtige Brust hob und senkte, seinen männlichen Duft, die weichen Körperhaare, die Art, wie er nachts den Arm um sie schlang, das Gefühl nicht nur von Nähe, sondern auch von
Sicherheit. In seiner Gegenwart fühlte sie sich klein und beschützt. Auch wenn das vielleicht altmodisch war, es gefiel ihr.
»Hi, Daddy«, sagte Emma.
»Hey, meine Kleine. Wie war’s in der Schule?«
»Gut.«
»Immer noch in diesen Tony verschossen?«
»Hm.«
Zufrieden mit ihrer Reaktion küsste Jack Grace auf die Wange. Max kam nackt aus seinem Zimmer.
»Na, bereit für die Badewanne, mein Sohn?«
»Bereit«, sagte Max.
Sie vollführten einen komplizierten Händedruck. Jack schwenkte den kichernden und gurgelnden Max in die Luft. Grace half Emma in ihren Pyjama. Lautes Lachen drang jetzt aus dem Bad. Jack sang mit Max einen Kinderreim über ein Mädchen namens Jenny Jenkins, die nicht wusste, welche Farbe sie tragen sollte. Jack begann mit der Farbe, und Max fiel mit dem Refrain ein. Im Augenblick sangen die beiden, Jenny Jenkins trüge »lila«, weil sie dann aussah wie aus
Weitere Kostenlose Bücher