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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Intensivstation bestand aus vier, durch Glaswände getrennten Räumen. Eine Schwester saß in der Mitte. Sie überwachte alle vier Einheiten. In dieser Nacht war nur eine belegt.
    Grace und Charlaine blieben stehen. Jack lag in seinem Bett. Als Erstes registrierte Grace, dass ihr großer, kräftiger Mann, der ihr allein schon durch seine Statur stets das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte, hier erschreckend klein und zerbrechlich aussah. Sie wusste, es war Einbildung. Es waren nur zwei Tage gewesen. Er war vollkommen dehydriert gewesen. Er hatte Gewicht verloren. Doch das war nicht der Grund.
    Jack hatte die Augen geschlossen. Ein Schlauch führte in seinen Hals. Ein weiterer führte in seinen Mund. Beide waren mit weißem Heftpflaster befestigt. Und ein dritter Schlauch schlängelte sich aus seiner Nase. Der vierte führte in die Armbeuge.
Neben dem Bett stand ein Infusionsständer. Jack war von zahllosen medizinischen Geräten umgeben. Er bot einen Anblick wie aus einem futuristischen Albtraum.
    Grace fühlte, wie sie zu schwanken begann. Charlaine fing sie auf. Grace erlangte ihr Gleichgewicht wieder und ging zur Tür.
    »Sie können da nicht rein«, sagte die Schwester.
    »Sie möchte nur an seinem Bett sitzen«, erklärte Charlaine. »Bitte.«
    Die Schwester sah sich um. Dann wandte sie sich an Grace: »Zwei Minuten.«
    Grace ließ Charlaine los. Charlaine stieß die Tür für sie auf. Grace ging allein hinein. Ein Konzert aus Pieptönen, dunklen Tropflauten und einem Gurgeln, als würde Wasser durch einen Strohhalm gesaugt, empfing sie. Grace setzte sich neben das Bett. Sie griff nicht nach Jacks Hand. Sie gab ihm keinen Kuss auf die Wange.
    »Die letzte Strophe wird dir gefallen«, sagte Grace.
    Sie schlug Emmas Gedichtheft auf und begann zu lesen:
    »Baseball, Baseball,
Wer ist dein bester Freund?
Ist es der Schläger,
Der dir das Hinterteil verbläut?«
    Grace lachte und blätterte weiter, doch die nächste Seite – wie auch der Rest des Heftes – war leer.

50
    Wenige Minuten bevor Wade Larue starb, glaubte er endlich, den wahren Frieden gefunden zu haben.
    Er hatte auf Rache verzichtet. Es dürstete ihn nicht mehr nach
der ganzen Wahrheit. Er wusste genug. Er wusste, wo ihn Schuld traf und wo nicht. Es war Zeit, das alles hinter sich zu lassen.
    Carl Vespa hatte keine Wahl. Er würde sich nie davon erholen. Das Gleiche galt für diesen schrecklichen Flickenteppich aus Gesichtern – dieses verschwommene Bild der Trauer –, dem er sich damals im Gerichtssaal und erneut heute bei der Pressekonferenz gezwungenermaßen gegenübergesehen hatte. Wade hatte Zeit verloren. Aber Zeit ist relativ. Der Tod ist es nicht.
    Er hatte Vespa alles gesagt, was er wusste. Vespa war ein böser Mann, kein Zweifel. Der Mensch war zu unaussprechlicher Grausamkeit fähig. In den vergangenen fünfzehn Jahren war Wade Larue einer ganzen Reihe ähnlicher Charaktere begegnet, aber nur wenige waren so einfach gestrickt gewesen. Mit Ausnahme von durchgeknallten Psychopathen sind die meisten Menschen, selbst die gemeinsten unter ihnen, in der Lage, andere zu lieben, sich um sie zu sorgen, in Verbindung mit ihnen zu treten. Das war kein Widerspruch. Das war schlicht menschlich.
    Larue redete. Vespa hörte zu. Irgendwann während seiner Ausführungen erschien Cram mit einem Handtuch und Eiswürfeln. Er gab beides Larue. Larue bedankte sich. Er nahm das Handtuch  – die Eiswürfel wären zu klobig gewesen – und tupfte sich damit das Blut ab. Vespas Schläge taten schon nicht mehr weh. Larue hatte im Lauf der Jahre Schlimmeres überstanden. Wenn man erst einmal ausreichend Prügel eingesteckt hat, fürchtet man sie entweder so sehr, dass man in Zukunft alles dafür tut, um sie zu vermeiden, oder man hält sie aus und verlässt sich darauf, dass alles im Leben irgendwann vorübergeht. Irgendwann während der Haft hatte sich Larue Letzteres zu Eigen gemacht.
    Carl Vespa sprach kein Wort. Er unterbrach ihn nicht, er forderte keine weitere Aufklärung. Als Larue geendet hatte, stand Vespa nur mit ungerührter Miene da und wartete auf mehr. Doch da kam nichts mehr. Da drehte sich Vespa wortlos um und ging.
Er machte Cram ein Zeichen. Cram trat näher. Larue hob den Kopf. Er hatte nicht vor, davonzulaufen. Damit war er durch.
    »Kommen Sie. Gehen wir«, sagte Cram.
    Cram setzte ihn mitten in Manhattan ab. Larue spielte mit dem Gedanken, Eric Wu anzurufen, doch er wusste, dass das beim augenblicklichen Stand der Dinge zwecklos

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