Kein böser Traum
war. Er machte sich auf zum Port-Authority-Busterminal. Er war bereit für den Rest seines Lebens. Sein Ziel war Portland, Oregon. Warum, wusste er selbst nicht genau. Er hatte im Gefängnis über Portland gelesen und irgendwie schien es zu passen. Er sehnte sich nach einer großen Stadt mit einer freigeistigen Atmosphäre. Nach allem, was er gelesen hatte, schien Portland eine Hippie-Kommune zu sein, die sich zu einer wichtigen Metropole ausgewachsen hatte. Vielleicht bekam er dort eine faire Chance.
Allerdings würde er seinen Namen ändern, sich einen Bart zulegen und sein Haar färben müssen. Mehr äußere Veränderungen waren seiner Ansicht nach nicht nötig, um die vergangenen fünfzehn Jahre hinter sich zu lassen. Es mochte vielleicht naiv sein, aber Wade Larue glaubte noch immer, dass für ihn eine Karriere als Schauspieler im Bereich des Möglichen lag. Er hatte noch immer Talent. Er hatte noch immer dieses außergewöhnliche Charisma. Warum sollte er’s nicht auf einen Versuch ankommen lassen? Wenn nichts daraus wurde, konnte er sich noch immer um einen ganz normalen Job bemühen. Er scheute keine harte Arbeit. Er würde wieder in einer Großstadt leben. Er würde frei sein.
Doch Wade Larue ging nicht zum Port-Authority-Busterminal.
Die Vergangenheit ließ ihn noch nicht los. Er brachte es nicht über sich, sang- und klanglos zu verschwinden. Eine Querstraße vor dem Bahnhof blieb er stehen. Er sah die Busse aus der Zufahrt und zum Viadukt hinüberdonnern. Er beobachtete die Szene einen Moment, dann wandte er sich der Reihe öffentlicher Telefone zu.
Einen letzten Anruf wollte er tätigen. Eine letzte Wahrheit wollte er erfahren.
Jetzt, eine Stunde danach, drückte ihm jemand einen Pistolenlauf in die weiche Vertiefung unterhalb seines Ohrs. Es war komisch, an was man angesichts des Todes dachte. Diese weiche Vertiefung war eine von Eric Wus bevorzugten Pressurpunkten. Wu hatte ihm erklärt, dass es nichts nützte, nur diese Stelle zu kennen. Man konnte nicht einfach den Finger dort hinein stecken und zudrücken. Das mochte vielleicht Schmerzen verursachen, aber außer Gefecht setzen würde es den Gegner nicht.
Das war es. Dieser läppische Gedanke, jenseits jeden Mitgefühls, war Wade Larues letzter, bevor die Kugel in sein Gehirn drang und seinem Leben ein Ende setzte.
51
Dellapelle führte Perlmutter in den Keller. Er war ausreichend beleuchtet, und dennoch benutzte Dellapelle eine Taschenlampe. Er richtete den Lichtkegel auf den Fußboden.
»Hier.«
Perlmutter starrte auf die Betonfläche und spürte einen kalten Hauch.
»Denken Sie, was ich denke?«, fragte Dellapelle.
»Dass vielleicht …« Perlmutter hielt inne und versuchte, die Sache einzuordnen. »… dass Jack Lawson nicht der Einzige war, der hier unten gefangen gehalten wurde.«
Dellapelle nickte. »Aber wo ist der andere?«
Perlmutter sagte nichts. Er starrte nur auf den Fußboden. Hier war offensichtlich jemand gefangen gehalten worden. Jemand, der einen Kieselstein gefunden und zwei Worte in Großbuchstaben in den Fußboden geritzt hatte. Es war ein Name, der Name
einer weiteren Person auf diesem seltsamen Foto, ein Name, den er gerade von Grace Lawson erfahren hatte:
»SHANE ALWORTH.«
Charlaine Swain blieb, um Grace in ihr Zimmer zurückzubegleiten. Ihr Schweigen war tröstlich. Grace dachte darüber nach. Sie dachte über viele Dinge nach. Sie fragte sich, wovor Jack vor all den Jahren davongelaufen war. Sie fragte sich, warum er nie diesen Treuhandfond angerührt hatte, weshalb er seiner Schwester und seinem Vater die Kontrolle über seinen Anteil überlassen hatte. Sie fragte sich, warum er so kurz nach dem Massaker aus Boston geflüchtet war. Sie fragte sich, warum Geri Duncan zwei Monate später hatte sterben müssen. Und sie fragte sich, und das erschien ihr das Rätselhafteste, ob ihre Begegnung mit Jack an jenem Tag in Frankreich, die Tatsache, dass sie sich in ihn verliebt hatte, mehr als nur ein Zufall gewesen war.
Sie fragte sich längst nicht mehr, ob all das in einem Zusammenhang stand. Sie wusste, dass es so war. Als sie Graces Zimmer erreicht hatten, half Charlaine ihr zurück ins Bett. Sie wandte sich zum Gehen.
»Würden Sie noch ein paar Minuten bleiben?«, bat Grace.
Charlaine nickte. »Gern.«
Sie redeten. Sie begannen mit dem, was sie gemeinsam hatten – Kinder –, doch es war klar, dass keine von beiden lange dabei verweilen wollte. Eine Stunde verging wie im Flug. Grace wusste nicht
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