Kein böser Traum
ausschließlich die Beine, während die Arme noch funktionierten. War der Druck zu stark, brach den Opfern die Wirbelsäule. Präzision, das war es, worauf es ankam. Das richtige Gespür. Und Übung.
Wu schaltete Freddys Computer ein. Er wollte den Kontakt zu den anderen Singles auf seiner Liste nicht abreißen lassen. Schließlich konnte er nicht absehen, wann er einen neuen Unterschlupf
benötigen würde. Als er fertig war, genehmigte Wu sich ein Schläfchen. Drei Stunden später wachte er auf und sah nach Freddy. Dessen Augen waren mittlerweile glasig, starrten senkrecht nach oben, blinzelten ohne zu fokussieren.
Als der Kontaktmann auf Wus Handy anrief, war es kurz vor 22 Uhr.
»Alles unter Dach und Fach?«, fragte der Kontaktmann.
»Ja.«
»Wir haben ein Problem.«
Wu wartete ab.
»Wir müssen die Sache beschleunigen. Ist das ein Problem?«
»Nein.«
»Wir müssen ihn fortbringen. Und zwar jetzt.«
»Hast du einen bestimmten Ort im Sinn?«
Wu hörte zu, prägte sich die Ortsbeschreibung ein.
»Noch Fragen?«
»Nein«, sagte Wu.
»Eric?«
Wu wartete.
»Danke, Kumpel.«
Wu schaltete das Handy aus. Er fand die Autoschlüssel und fuhr in Freddys Honda davon.
3
Die Polizei konnte Grace noch nicht anrufen. Schlafen konnte sie aber auch nicht.
Der Computer war eingeschaltet. Ihr Bildschirmschoner war ein Familienfoto, aufgenommen im vergangenen Jahr in Disney World. Es zeigte sie alle vier zusammen mit Goofy im Epcot Center. Jack hatte Mickeymaus-Ohren aufgesetzt und grinste über beide Ohren. Ihr Lächeln war reserviert. Sie war sich dumm vorgekommen,
was Jack nur noch übermütiger gemacht hatte. Sie griff nach der Maus, nach der anderen Maus, der Computermaus – und ihre Familie verschwand vom Bildschirm.
Sie klickte auf das neue Symbol, und das fremde Foto mit den fünf College-Studenten erschien auf dem Monitor. Sie hatte es in Adobe Photoshop geöffnet. Grace starrte einige Minuten auf die jungen Gesichter und suchte – sie wusste selbst nicht recht wonach – vielleicht nach einem Anhaltspunkt. Nichts, was ihr geholfen hätte. Sie studierte die Gesichter, vergrößerte sie auf das größtmögliche Format, ohne dass das Foto an Schärfe verlor. Das gute Papier war im Tintenstrahldrucker eingelegt. Sie klickte auf Drucken. Dann griff sie nach einer Schere und machte sich an die Arbeit.
Kurz darauf hatte sie fünf Passfotos, eines für jede Person auf dem Bild. Sie betrachtete sie erneut prüfend, wobei sie besonders viel Zeit auf die Blondine an Jacks Seite verwendete. Sie war hübsch, hatte einen frischen, unverbrauchten Teint und langes flachsblondes Haar. Die Augen der jungen Frau waren auf Jack gerichtet, und dieser Blick war alles andere als nichtssagend. Grace fühlte einen Stich. War das Eifersucht? Wie absurd. Wer war diese Frau? Offensichtlich eine alte Freundin – eine allerdings, von der Jack nie gesprochen hatte. Na und? Grace hatte selbst eine Vergangenheit. Dasselbe galt für Jack. Warum also sollte der Blick auf diesem Bild sie beunruhigen?
Und wie ging es jetzt weiter?
Sie musste auf Jack warten. Sobald er nach Hause kam, würde sie Antworten verlangen.
Antworten worauf?
Moment. Sie rekapitulierte. Was war eigentlich passiert? Ein altes Foto, das vermutlich Jack zeigte, war in einem Stapel ihrer Bilder aufgetaucht. Das war merkwürdig. Sicher. Wenn nicht sogar etwas unheimlich – weil das Gesicht der Blondine mit einem fetten X durchgestrichen war. Jack war schon häufiger lange ausgeblieben,
ohne anzurufen. Wahrscheinlich hatte ihn etwas auf diesem Foto aufgebracht. Er hatte sein Handy ausgestellt und saß vermutlich irgendwo in einer Bar. Oder bei Dan. Vielleicht war das Ganze nichts als ein dummer Scherz.
Ja, natürlich – Grace. Ein Scherz!
Allein im dunklen Zimmer, mit dem Widerschein des Monitors als einziger Lichtquelle, versuchte Grace in zahlreichen Variationen eines Themas den seltsamen Vorfall rational aufzulösen. Sie hörte auf, als sie merkte, dass ihr das nur noch mehr Angst einjagte.
Grace klickte das Gesicht der jungen Frau an, die so sehnsuchtsvoll zu ihrem Mann aufschaute, und vergrößerte es, um sie besser erkennen zu können. Sie starrte unverwandt auf das Gesicht – ein Anfall von Angst verursachte ihr eine Gänsehaut. Grace rührte sich nicht. Sie betrachtete weiter das Gesicht der Frau. Sie kannte weder das Wo noch das Wann noch das Wie, aber eines wurde ihr jetzt mit unterschwelliger Gewissheit klar.
Grace hatte diese junge Frau
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