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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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versetzt hatte, schrie und kreischte.
    Doch die Stimme aus dem Lautsprecher kündigte nicht die heiß ersehnte Band an. Stattdessen gab man lakonisch bekannt, dass sich der Auftritt erneut um mindestens eine Stunde verzögern würde. Ohne jede Erklärung. Niemand rührte sich. Im Stadium herrschte urplötzlich Stille.
    Das war immer der Augenblick, in dem der Traum einsetzte, exakt während der Stille vor dem Sturm. Grace war wieder mittendrin. Wie alt war sie damals? Einundzwanzig. Doch im Traum schien sie älter zu sein. Im Traum war sie eine andere, parallele Persönlichkeit von Grace, eine, die mit Jack verheiratet und Mutter von Emma und Max war und dennoch dieses Konzert während ihres letzten Jahres am College besuchte. Danach lief alles ab, wie es in Träumen so üblich ist, in jener doppelbödigen Realität, in der das parallele Ich mit dem zeitgemäßen Ich eine Teilmenge bildet.
    Entstammte all das, entstammten diese Traum-Sequenzen ihrem Unterbewusstsein oder wurden sie von Informationen gespeist, die sie später über die Tragödie erhalten hatte? Grace wusste es nicht. Es war, wie sie längst annahm, vermutlich eine
Kombination aus beidem. Träume öffnen Türen für Erinnerungen. Im Wachzustand vermochte sie sich nie an die Ereignisse jener Nacht – ja nicht einmal an die Tage unmittelbar davor – zu erinnern. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie für die Abschlussprüfung in Politologie gelernt hatte, die wenige Tage davor stattgefunden hatte. Die Ärzte hatten ihr versichert, dies sei eine normale Folge eines Schädeltraumas, wie sie es erlitten hatte. Doch das Unterbewusstsein ist ein seltsames Medium. Vielleicht waren diese Träume durchaus reale Erinnerungen. Vielleicht waren sie aber auch nur Einbildung. Wahrscheinlich war es wiederum eine Mischung aus beidem.
    Wie dem auch war, ob es ihrem Gedächtnis oder den Zeitungsberichten entsprang, in exakt diesem Augenblick jedenfalls wurde ein Schuss abgefeuert. Dann noch einer. Und wieder einer.
    Das alles geschah zu einer Zeit, in der sich das Publikum von Großveranstaltungen noch nicht eine Überprüfung mit Metalldetektoren gefallen lassen musste. Jeder hätte eine Waffe bei sich tragen können. Noch wochenlang danach war diskutiert worden, woher diese Schüsse gekommen sein könnten. Fans von Verschwörungstheorien hatten über diesen Punkt gestritten, als handle es sich um eine ganz normale Grundsatzdiskussion. Jedenfalls geriet die bereits aufgebrachte Menge von Jugendlichen endgültig in wilde Panik. Sie kreischten. Sie drehten durch. Sie drängten zu den Ausgängen.
    Sie stürmten die Bühne.
    Grace war zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie wurde mit der Hüfte gegen die obere Stange der Stahlabsperrung geworfen. Diese drückte sich in ihren Magen. Sie konnte sich nicht befreien. Die Menge kreischte und wogte geschlossen vorwärts. Der Junge neben ihr – sie sollte später erfahren, dass er der neunzehnjährige Ryan Vespa war – konnte sich nicht rechtzeitig mit den Händen schützen. Er wurde in einem für ihn tödlichen Winkel gegen den Stahlträger geschleudert.

    Grace sah – wiederum war nicht klar, ob im Traum oder in Wirklichkeit –, wie Blut in einer Fontäne aus Ryans Mund schoss. Die Absperrung gab schließlich nach. Er kippte um. Grace fiel zu Boden. Sie versuchte sich aufzurappeln, auf die Beine zu kommen, doch die anstürmenden Wellen kreischender Menschen rissen sie immer wieder zu Boden.
    Der folgende Teil, das wusste sie, war Wirklichkeit. Das Erlebnis, unter einer Menschenmenge begraben zu sein, verfolgte sie nicht nur in ihren Träumen.
    Über ihr ging die panische Flucht weiter. Sie trampelten über sie hinweg. Traten ihr auf Arme und Beine. Stolperten und stürzten, schlugen schwer wie Betonplatten auf sie nieder. Das Gewicht wurde immer erdrückender. Sie fühlte sich platt gedrückt wie eine Flunder. Unzählige verzweifelte, strauchelnde, sich vorwärts kämpfende Leiber donnerten über sie hinweg.
    Die Luft war erfüllt von Schreien. Grace lag mittlerweile ganz unten. Lebendig begraben. Um sie herum nur Dunkelheit. Zu viele Körper stapelten sich auf ihr. Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht atmen. Sie bekam keine Luft mehr. Es war, als habe jemand Beton über sie gegossen. Als würde sie unter Wasser gezogen.
    Ein unerträgliches Gewicht lastete auf ihr. Es war ein Gefühl, als drücke die Hand eines Riesen ihren Kopf in die Erde und zermalme ihren Schädel, als wäre er aus Styropor.
    Es gab

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