Kein böser Traum
kein Entrinnen.
Das war gnädigerweise der Punkt, an dem der Traum endete. Grace wachte auf. Noch immer nach Atem ringend.
In Wirklichkeit war Grace erst vier Tage später aus ihrer Bewusstlosigkeit aufgewacht und konnte sich an fast nichts mehr erinnern. Zuerst glaubte sie, es sei der Morgen ihrer Abschlussprüfung in Politologie. Die Ärzte nahmen sich Zeit, erklärten ihr die Situation. Sie war schwer verletzt. Sie hatte einen Schädelbasisbruch erlitten. Das, so nahmen die Ärzte an, erklärte Kopfschmerzen
und Gedächtnisverlust. Sie litt nicht an Amnesie. Sie hatte nichts verdrängt. Eine psychosomatische Ursache wurde ausgeschlossen. Das Gehirn hatte Schaden genommen, was bei einem schweren Schädeltrauma und folgender Bewusstlosigkeit nichts Ungewöhnliches ist. Es war normal, dass man die Erinnerung an Stunden, ja sogar an mehrere Tage verlor. Grace hatte außerdem einen Oberschenkel-, einen Schienbein- und drei Rippenbrüche erlitten. Auch die Kniescheibe war gebrochen. Eine Hüfte war ausgerenkt.
Durch einen Nebel von Schmerzmitteln begriff sie schließlich, dass sie »Glück« im Unglück gehabt hatte. Achtzehn junge Leute im Alter von vierzehn bis sechsundzwanzig Jahren hatten bei der Katastrophe, die die Medien das »Massaker von Boston« nannten, ihr Leben verloren.
Die Gestalt im Türrahmen sagte: »Mom?«
Es war Emma. »Hallo, Liebes.«
»Du hast geschrien.«
»Mir geht’s gut. Auch Mütter haben manchmal Albträume.«
Emma blieb im Lichtschatten. »Wo ist Daddy?«
Grace warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war 4 Uhr 45. Wie lange hatte sie geschlafen? Kaum mehr als zehn, fünfzehn Minuten. »Er kommt bald wieder.«
Emma rührte sich nicht.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Grace.
»Kann ich bei dir schlafen?«
Eine Nacht voller schlechter Träume, dachte Grace. Sie schlug die Decke zurück. »Na klar, Schätzchen.«
Emma kroch auf Jacks Seite des Bettes. Grace warf die Decke wieder über sie und hielt sie fest im Arm. Unverwandt starrte sie auf die Nachttischuhr. In dem Moment, als der kleine Zeiger von 6 Uhr 59 auf 7 Uhr sprang, gestattete sie es sich, Panik zuzulassen.
Jack hatte noch nie zuvor so etwas gemacht. An einem normalen Abend wäre er zu ihr gekommen und hätte gesagt, er
wolle noch einkaufen gehen. Hätte er irgendeine plumpe Anzüglichkeit von sich gegeben, etwas über Melonen oder Bananen, irgendetwas Lustiges und Blödsinniges gesagt, dann hätte sie längst die Polizei angerufen.
Doch der vergangene Abend war nicht normal gewesen. Da war dieses Foto. Seine Reaktion. Und kein Abschiedskuss.
Emma begann sich neben ihr zu räkeln. Wenige Minuten später tauchte Max auf und rieb sich die Augen. Normalerweise machte Jack das Frühstück. Er war der Frühaufsteher. Grace schaffte es mit Mühe, das Frühstück – Crunchys mit Bananen – auf den Tisch zu bringen, und beantwortete ausweichend die Fragen der Kinder nach der Abwesenheit ihres Vaters. Während die Kinder ihr Müsli hinunterschlangen, verschwand sie im Arbeitszimmer und rief in Jacks Büro an. Niemand meldete sich. Es war noch zu früh.
Sie streifte eines von Jacks Adidas-Sweatshirts über und brachte die Kinder zur Schulbushaltestelle. Emma hatte sie früher stets umarmt, bevor sie in den Bus gestiegen war, aber dafür war sie mittlerweile zu alt. Sie war längst im Bus, bevor Grace eine typisch elternhafte Bemerkung darüber machen konnte, dass sie sich offenbar nicht zu erwachsen vorkam, nachts zur Mutter ins Bett zu schlüpfen, wenn sie sich ängstigte. Max umarmte sie zwar noch, aber das geschah schnell und ohne offensichtliche Begeisterung. Zischend schlossen sich die Bustüren hinter ihnen zu, als hätte der Bus sie mit einem lauten Happ verschlungen.
Grace hob die Hand gegen die Sonne und sah dem Bus nach, bis er in die Bryden Road einbog. Selbst jetzt, nach all der Zeit, hatte sie das Bedürfnis, in den Wagen zu steigen und hinterher zu fahren, um sicherzugehen, dass diese offenbar so klapprige Mühle aus gelbem Blech es heil bis zur Schule schaffte.
Was war mit Jack geschehen?
Sie machte sich auf den Rückweg zum Haus. Im letzten Moment überlegte sie es sich anders, sprintete zu ihrem Wagen und fuhr davon. Grace holte den Bus auf der Heights Road ein und
folgte ihm den Rest des Weges zur Willard-Schule. Dort parkte sie und beobachtete, wie die Kinder ausstiegen. Als Emma und Max gebeugt unter dem Gewicht der schweren Schulranzen auftauchten, fühlte sie das vertraute
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