Kein böser Traum
Kribbeln in der Magengegend. Sie saß im Wagen und sah zu, wie die beiden über den Hof und die Treppe hinauf gingen und im Eingangsportal verschwanden.
Und dann kamen Grace zum ersten Mal seit sehr langer Zeit die Tränen.
Grace hatte Cops in Zivil erwartet. Und zwar im Doppelpack. So jedenfalls lief das im Fernsehen ab. Der eine war das altgediente Raubein. Der andere war jung und gut aussehend. So viel zur Wirklichkeitstreue von Fernsehfilmen. Die Polizei hatte ihr einen Verkehrspolizisten in entsprechender Uniform und Streifenwagen geschickt.
Er stellte sich als Officer Daley vor. Er war tatsächlich jung, sehr jung sogar, mit unreiner Haut und einem speckigen Kindergesicht. Seine Muskeln schien er im Fitness-Studio erworben zu haben. Die kurzen Hemdsärmel spannten sich wie Aderpressen über seinem aufgeblähten Bizeps. Officer Daley artikulierte mit aufreizender Geduld im monotonen Jargon des Vorstadt-Cops, als spräche er zu einer Klasse von Erstklässlern bei der Fahrradprüfung.
Zehn Minuten nach ihrem Anruf bei der Polizei tauchte er bei ihr auf. Normalerweise, so hatte sie der Dienst habende Beamte am Telefon aufgeklärt, müsse sie aufs Revier kommen und ein Formular ausfüllen. Aber da Officer Daley zufällig in der Gegend wäre, könnte dieser kurz bei ihr vorbeischauen. So ein Glück!
Daley zog ein A4-Blatt aus der Tasche und legte es auf den Couchtisch. Er drückte die Mine aus dem Kugelschreiber und begann Fragen zu stellen.
»Name der vermissten Person?«
»John Lawson. Rufname Jack.«
Er kam zur nächsten Spalte.
»Adresse und Telefonnummer?«
Sie nannte ihm beide.
»Geburtsort?«
»Los Angeles, Kalifornien.«
Anschließend forderte er Angaben zu Jacks Körpergröße, Gesicht, Augen und Haarfarbe und – man höre und staune – seinem Geschlecht. Er fragte, ob Jack möglicherweise Narben, Tätowierungen oder sonstige Kennzeichen hätte. Und er erkundigte sich, wo er sich ihrer Ansicht nach befinden könnte.
»Keine Ahnung«, sagte Grace. »Deshalb habe ich Sie ja angerufen.«
Officer Daley nickte. »Ich nehme an, Ihr Ehemann ist volljährig?«
»Wie bitte?«
»Er ist doch vermutlich über achtzehn, oder?«
»Ja.«
»Das erschwert die Sache.«
»Warum?«
»Wir haben neue Vorschriften bei Vermisstenanzeigen. Sind erst vor ein paar Wochen in Kraft getreten.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
Er seufzte melodramatisch. »Also, damit wir die Daten einer Person in den Computer eingeben können, müssen gewisse Kriterien erfüllt sein.« Daley zog ein weiteres Blatt Papier aus der Tasche. »Ist Ihr Mann behindert?«
»Nein.«
»Gefährdet?«
»Was meinen Sie damit?«
Daley las vom Blatt ab. »›Eine volljährige Person, die vermisst wird und sich in Gesellschaft einer zweiten Person befindet, womit unter Umständen der Verdacht gegeben ist, dass seine/ihre physische Sicherheit in Gefahr sein könnte.‹«
»Keine Ahnung. Das habe ich doch schon gesagt. Er ist gestern Abend aus dem Haus …«
»In diesem Fall können wir das mit einem ›Nein‹ beantworten.« Er überflog das Formular. »Nummer drei. Unfreiwillig. Wie zum Beispiel bei Menschenraub oder Entführung.«
»Weiß ich auch nicht.«
»Gut. Nummer vier. Katastrophenopfer. Zum Beispiel im Fall einer Feuersbrunst oder eines Flugzeugabsturzes.«
»Nein.«
»Und die letzte Kategorie. Handelt es sich um einen Jugendlichen? Aber das hatten wir ja schon.« Er ließ das Formular sinken. »Das wär’s. Wir können die Daten nicht eingeben, solange keines dieser Kriterien erfüllt ist.«
»Wenn also jemand auf diese Weise verschwindet, dann unternehmen Sie nichts?«
»So würde ich das nicht sagen.«
»Wie würden Sie es denn sagen?«
»Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass ein Verbrechen vorliegt. Sollte sich das ändern, werden wir unverzüglich Ermittlungen aufnehmen.«
»Aber vorerst tun Sie gar nichts?«
Daley legte den Kugelschreiber beiseite. Er beugte sich vor. Seine Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln. Er atmete schwer. »Darf ich ganz offen sprechen, Mrs. Lawson?«
»Ich bitte Sie darum.«
»In den meisten dieser Fälle – nein, ich würde schätzen, in 99 Prozent der Fälle – hat sich der Ehemann einfach nur aus dem Staub gemacht. Eheprobleme, eine Geliebte … Es gibt viele Gründe, weshalb ein Ehemann manchmal nicht gefunden werden möchte.«
»Das trifft in diesem Fall nicht zu.«
Er nickte. »Und in 99 Prozent der Fälle kriegen wir genau das von der Ehefrau zu hören.«
Der
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