Kein böser Traum
schon.«
»Gut. Der Zeitpunkt könnte besser nicht sein. Da gibt es etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.«
»Und das wäre?«
»Sind Sie zu Hause?«
»Bald wieder, ja.«
»Ich hole Sie in zwei oder zweieinhalb Stunden ab. Dann können wir reden, okay? Haben Sie jemanden für die Kinder?«
»Das sollte sich einrichten lassen.«
»Wenn nicht, bleibt mein Assistent bei ihnen. Bis dann!«
Carl Vespa legte auf. Grace fuhr weiter. Sie fragte sich, was er wohl mit ihr vorhatte. Sie fragte sich, ob es überhaupt klug gewesen war, ihn anzurufen. Sie wählte die erste Nummer im Verzeichnis der gespeicherten Telefonnummern – Jacks Handy –, doch es war noch immer abgeschaltet.
Grace kam eine andere Idee. Sie rief ihre Ménage-nein-danke-Freundin Cora an.
»Hast du dich nicht mal mit einem Typ getroffen, der Spezialist für Spam-Mail ist?«, fragte Grace.
»Richtig«, antwortete Cora. »Beknackter Typ namens Gus. Schwer abzuschütteln. Musste erst schweres Geschütz auffahren.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe ihm gesagt, seine so genannte Männlichkeit wäre ein Witz.«
»Ups.«
»War ein Volltreffer. Funktioniert eigentlich immer. Allerdings häufig nicht ohne Kollateralschäden.«
»Könnte sein, dass ich seine Hilfe brauche.«
»Inwiefern?«
Grace wusste nicht, wie sie das ausdrücken sollte. Sie beschloss, sich auf die Blondine mit dem X zu konzentrieren, die ihr irgendwie bekannt vorkam. »Ich habe so ein Foto gefunden …«, begann sie.
»Aha.«
»Mit einer Frau drauf. Sie ist so ungefähr um die zwanzig.«
»Hm.«
»Es ist ein altes Foto. Würde sagen, fünfzehn, zwanzig Jahre alt. Jedenfalls muss ich wissen, wer das Mädchen ist. Ich dachte – vielleicht kann ich es über Spam-Mail ins Netz stellen – und fragen, ob jemand sie kennt – sagen wir im Rahmen eines Forschungs-projekts. Natürlich löschen die meisten diese unerwünschten E-Mails, aber wenn nur ein paar anbeißen, kriege ich vielleicht eine Antwort.«
»Wenig wahrscheinlich.«
»Ja, ich weiß.«
»Lockt bestimmt die gruseligsten Kreaturen aus ihren Löchern. Von den Antworten ganz zu schweigen!«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Nicht wirklich. Aber ich könnte dran arbeiten. Ist dir übrigens aufgefallen, dass ich dich gar nicht gefragt habe, warum dich eine Frau auf einem zwanzig Jahre alten Foto so brennend interessiert?«
»Doch, ist es.«
»Wollte es nur mal erwähnt haben.«
»Ist mir nicht entgangen. Ist eine lange Geschichte.«
»Ich kann zuhören.«
»Vielleicht später. Im Moment brauche ich jemanden, der für ein paar Stunden meine Kinder hütet.«
»Ich bin allein und verfügbar.« Pause. »Mann, ich muss aufhören, diese Sätze zu sagen.«
»Wo ist Vickie?« Vickie war Coras Tochter.
»Übernachtet in der Villa Protzi bei meinem Ex und seiner Frau mit dem Pferdegesicht. Man könnte auch sagen, sie verbringt die Nacht im Bunker mit Adolf und Eva.«
Grace lächelte angestrengt.
»Mein Auto ist in der Werkstatt«, sagte Cora. »Kannst du mich auf dem Heimweg mitnehmen?«
»Bin gleich bei dir. Muss nur noch Max abholen.«
Grace fuhr beim Montessori Institut vorbei und holte ihren Sohn ab. Max’ Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er hatte einige seiner Yu-Gi-Oh-Sammelkarten an einen Klassenkameraden verloren. Grace versuchte vergeblich, ihn aufzuheitern. Schließlich half sie ihm in seinen Anorak. Seine Mütze war nicht auffindbar. Dasselbe galt für einen Handschuh. Eine andere Mutter lächelte und pfiff, während sie ihr kleines Herzblatt in farblich aufeinander abgestimmte Wolle wickelte (handgestrickt zweifellos): Mütze, Schal und natürlich passende Handschuhe. Sie warf Grace einen Blick zu und schenkte ihr ein falsches mitfühlendes Lächeln. Grace kannte die Frau nicht, fand sie jedoch extrem unsympathisch.
Mutterschaft, dachte Grace, hatte fast etwas von einem Künstlerdasein – man war immer unsicher, fühlte sich stets wie eine Idiotin und wusste, dass jede andere besser war als man selbst. Die Mütter, die ihren Kindern so demonstrativ ergeben sind, die ihre eintönigen Pflichten mit einem nie versiegenden Dauerlächeln und übernatürlicher Geduld ableisten – also jene Hausmütterchen, die immer und überall die richtigen Materialien für den idealen Kinderbastel-Nachmittag parat haben… Grace hegte den Verdacht, dass diese Frauen zutiefst gestört waren.
Cora wartete in der Auffahrt ihres in knalligem Pink gestrichenen Hauses. Die Nachbarschaft hasste diese Farbe.
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