Kein böser Traum
gelangen. Er hatte die Sicherheitsleute bestochen – interessanterweise wurde die Sicherheitsfirma im Krankenhaus vom organisierten Verbrechen kontrolliert – und war dann einfach persönlich an ihrer Seite geblieben.
Schließlich folgten andere Eltern seinem Beispiel. Es war ein seltsames Phänomen. Sie hatten lediglich das Bedürfnis, in ihrer Nähe zu sein. Mehr nicht. Sie fanden Trost darin. Ihr Kind war in Graces Gegenwart gestorben, und es war, als lebe ein, wenn auch kleiner, Teil ihrer für immer verlorenen Töchter oder Söhne in ihr weiter. So absurd es auch sein mochte, Grace glaubte, sie zu verstehen.
Diese Eltern mit dem gebrochenen Herzen kamen zu ihr, um mit ihr über ihre toten Kinder zu sprechen, und Grace hörte zu. Sie glaubte, ihnen zumindest das schuldig zu sein. Sie ahnte, dass eine solche Beziehung vermutlich nicht normal war, aber wie hätte sie diese Menschen zurückweisen können? Außerdem besaß Grace keine eigene Familie. Schon deshalb hatte sie für eine Weile ihre Aufmerksamkeit genossen. Die Eltern brauchten einen Kindersatz. Sie brauchte einen Elternersatz. Auf diese simple Formel ließ es sich reduzieren.
Die Limousine fuhr inzwischen auf dem Garden State Parkway in Richtung Süden. Cram schaltete das Radio ein. Klassische Musik, den Klängen nach ein Violinkonzert, schallte aus den Lautsprechern.
»Sie wissen natürlich, dass der Jahrestag naht«, sagte Vespa.
»Ja, sicher«, bemerkte sie. Wenn sie sich auch alle Mühe gegeben
hatte, genau das zu vergessen. Fünfzehn Jahre waren seit jener schrecklichen Nacht im Boston Garden vergangen. Die Zeitungen hatten all die erwarteten »Was-ist-aus-ihnen-geworden-Storys« zum Gedenken an das Ereignis veröffentlicht. Eltern und Überlebende hatten auf die Neugier der Presse ganz unterschiedlich reagiert. Die meisten gaben bereitwillig Auskunft. Sie glaubten, auf diese Weise die Erinnerung an das Geschehen wach zu halten. Herzzerreißende Artikel waren über die Garrisons und die Reeds und die Weiders erschienen. Der Sicherheitsbedienstete, Gordon MacKenzie, dem man die Rettung vieler Jugendlicher zuschrieb, weil er die verriegelten Notausgänge mit Gewalt geöffnet hatte, arbeitete mittlerweile im Rang eines Captains bei der Polizei von Brookline, einem Bostoner Vorort. Selbst Carl Vespa hatte sich mit seiner Frau Sharon im Innenhof ihres Hauses fotografieren lassen. Auf dem Foto sahen beide noch immer aus, als sei die Tragödie erst gestern über sie hereingebrochen.
Grace hatte einen anderen Weg gewählt. Jetzt, da ihre Karriere als Künstlerin dem Höhepunkt zustrebte, wollte sie auf keinen Fall den Anschein erwecken, als versuche sie, aus der Tragödie von damals Kapital zu schlagen. Sie war verletzt worden, hatte jedoch überlebt. Mehr nicht. Alles andere hätte sie als Effekthascherei empfunden. Aufmerksamkeit gebührte nur den Toten und deren Hinterbliebenen.
»Sie prüfen wieder, ob er für eine Bewährung in Frage kommt«, sagte Vespa. »Wade Larue, meine ich.«
Sie wusste es. Natürlich.
Wade Larue war derjenige, dem man die Schuld an der verheerenden Reaktion des jungen Publikums in jener Nacht gegeben hatte. Er saß gegenwärtig im Walden-Gefängnis, außerhalb von Albany, New York. Er hatte die Schüsse abgefeuert, die die Panik ausgelöst hatten. Die Einlassung der Verteidigung damals hatte Aufsehen erregt. Die Anwälte hatten behauptet, Wade Larue hätte nichts damit zu tun gehabt – ungeachtet der Pulverspuren
an seinen Händen, der Tatsache, dass die Waffe ihm gehörte, die Kugel aus seiner Pistole stammte, die Zeugen gesehen hatten, wie er geschossen hatte. Falls er dennoch die Schüsse abgegeben haben sollte, hätte er in seinem Drogenrausch nichts davon mitbekommen. Die Argumentation gipfelte in der Behauptung, Wade Larue hätte in jedem Fall unmöglich ahnen können, dass ein Schuss aus seiner Pistole den Tod von achtzehn Personen und Dutzende von Verletzten zur Folge haben würde.
Der Fall erwies sich als ausgesprochen strittig. Während die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklageschrift von achtzehn Mordfällen ausging, sahen die Geschworenen das vollkommen anders. Larues Anwalt gelang es schließlich, einen Deal zu stricken, bei dem man sich auf achtzehn Fälle von Totschlag einigte. Das Urteil interessierte niemand sehr. Carl Vespas Sohn war in jener Nacht gestorben. Hier sei nur daran erinnert, was geschehen war, als Gottis Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Vom Fahrer des Unfallwagens,
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