Kein böser Traum
Tür und schlich ins Haus.
Zurück in der Limousine schwiegen Grace und Carl Vespa sich an.
Graces Gedanken wanderten immer wieder zu jenem Tag zurück, an dem sie Jimmy X zum letzten Mal gesehen hatte – vor fünfzehn Jahren in ihrem Krankenzimmer. Man hatte ihn praktisch zu dem Besuch gezwungen, es war ein Fototermin gewesen, anberaumt von seinem Promoter. Und Jimmy hatte es nicht einmal über sich gebracht, sie anzusehen, geschweige denn mit ihr zu sprechen. Er hatte nur neben ihrem Bett gestanden und sich mit gesenktem Kopf wie ein Kind, das auf Schelte wartete, krampfhaft an einen Blumenstrauß geklammert. Sie hatte kein
Wort gesagt. Schließlich hatte er ihr den Strauß übergeben und war gegangen.
Jimmy X hatte sich sang- und klanglos aus der Musikszene verabschiedet und war untergetaucht. Gerüchteweise hieß es, er habe sich auf eine private Insel in der Nähe der Fidschis zurückgezogen. Und jetzt, fünfzehn Jahre später, war er wieder in New Jersey, als Schlagzeuger in einer christlichen Rockband.
Als sie in ihre Straße einbogen, sagte Vespa: »Es ist nicht besser geworden, wissen Sie.«
Grace sah aus dem Fenster. »Jimmy X hat die Schüsse nicht abgegeben.«
»Das weiß ich auch.«
»Was wollen Sie dann von ihm?«
»Er hat sich nicht einmal entschuldigt.«
»Und das würde genügen?«
Er dachte nach. »Es gab da einen Jungen, der überlebt hat«, sagte er schließlich. »David Reed. Erinnern Sie sich?«
»Ja.«
»Er hat neben Ryan gestanden. Seite an Seite. Aber als der Tumult losging, hat irgendj emand diesen Reed gepackt und ihn auf die Schultern gehoben. Er konnte sich auf die Bühne retten.«
»Ich weiß.«
»Erinnern Sie sich, was seine Eltern gesagt haben?«
Sie erinnerte sich, sagte jedoch nichts.
»Jesus habe ihren Sohn persönlich in die Höhe gehoben. Es sei Gottes Wille gewesen.« Vespas Stimme klang unverändert, doch Grace glaubte die unterdrückte Wut zu spüren, die ihr wie heiße Luft aus einem Hochofen entgegenschlug. »Mr. und Mrs. Reed haben gebetet, müssen Sie wissen. Und Gott hat geantwortet. Es sei ein Wunder geschehen, haben sie gesagt. Gott habe seine Hand über ihren Sohn gehalten, haben sie immer wieder behauptet. Gerade so, als habe Gott weder den Wunsch noch die Neigung verspürt, meinen Sohn zu retten.«
Erneutes Schweigen. Grace hätte ihm gern geantwortet, es seien an jenem Tag viele gute Menschen gestorben, viele gute Menschen mit gottesgläubigen Eltern, die gebetet hatten, und dass Gott für alle da sei. Doch Vespa wusste das. Für ihn bot es keinen Trost. Als sie in die Auffahrt einbogen, wurde es bereits dunkel. Grace sah die Umrisse von Cora und den Kindern hinter dem Küchenfenster. »Ich möchte Ihnen helfen, Ihren Mann zu finden«, sagte Vespa.
»Ich weiß nicht mal, wie Sie das anstellen sollten.«
»Lassen Sie sich überraschen«, bemerkte er. »Sie haben meine Nummer. Wann immer Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich bin immer für Sie da.«
Cram öffnete die Autotür. Vespa begleitete sie zum Haus.
»Wir bleiben in Verbindung«, versprach er.
»Danke.«
»Ich werde Cram beauftragen, das Haus zu bewachen.«
Sie sah Cram an. Cram lächelte vage.
»Das ist nicht nötig.«
»Lassen Sie mir das Vergnügen.«
»Nein, wirklich – ich möchte das nicht. Bitte.«
Vespa dachte nach. »Falls Sie Ihre Meinung noch ändern …«
»Dann lasse ich es Sie wissen.«
Er wandte sich zum Gehen. Sie sah ihm nach, wie er zum Wagen zurück ging und fragte sich, ob es klug war, ausgerechnet mit dem Teufel einen Pakt einzugehen. Cram öffnete den Wagenschlag. Im nächsten Moment war Vespa in die Limousine abgetaucht. Cram nickte ihr zu. Grace rührte sich nicht vom Fleck. Sie hielt sich für eine ziemlich gute Menschenkennerin, aber Carl Vespa hatte sie in diesem Punkt widerlegt. Sie hatte nie auch nur den Anflug des Bösen in ihm erkannt oder gespürt. Und doch wusste sie, dass es da war.
Das Böse – das wirklich Böse – erschien in dieser Maske.
Cora setzte Wasser für die Pasta auf. Sie leerte ein Glas Tomatensauce in einen Stieltopf und beugte sich dicht an Graces Ohr.
»Sehe mal nach, ob eine E-Mail gekommen ist«, flüsterte Cora. »Vielleicht haben wir schon eine Antwort.«
Grace nickte. Sie half Emma bei den Hausaufgaben und hatte alle Mühe, sich zu konzentrieren. Ihre Tochter trug ein Basketball-Netzhemd. Sie nannte sich Bob. Sie wollte unbedingt ein Sportler sein. Grace wusste nicht recht,
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