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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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bearbeitete weiter selbstvergessen seine Instrumente, versunken in die Musik, als er plötzlich den Kopf wandte und sie erblickte. Ihre Blicke trafen sich. Und da wusste sie es. Und er wusste es ebenfalls.
    Er war Jimmy X.
    Sie zögerte keine Sekunde. Sie strebte hinkend dem Ausgang zu. Die Musik verfolgte sie.
    »Grace?«
    Es war Vespa. Sie beachtete ihn nicht. Sie stieß die Tür des Notausgangs auf. Gierig saugte sie die kühle Luft in ihre Lungen und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Cram war zur Stelle. So als habe er geahnt, welchen Ausgang sie nehmen würde. Er schaute sie lächelnd an.
    Carl Vespa trat hinter sie. »Er ist es. Stimmt’s?«
    »Und wenn schon?«
    »Und wenn schon?«, wiederholte Vespa überrascht. »Er ist kein Unschuldslamm. Er ist ebenso schuldig …«
    »Ich möchte nach Hause.«
    Vespa blieb so abrupt stehen, als habe sie ihn geohrfeigt.
    Ihn anzurufen, war ein Fehler gewesen. Soviel wusste sie jetzt. Sie hatte überlebt. Sie war wieder gesund geworden. Gut, das Hinken war ihr geblieben. Und die Schmerzen. Aber die waren nicht dramatisch. Und dann noch die gelegentlichen Albträume. Aber sie war in Ordnung. Sie hatte es überwunden. Die anderen, die Eltern, würden nie darüber hinwegkommen. Das hatte sie schon am ersten Tag erkannt – diese waidwunden Blicke –, und während andere nach vorn blickten, ihr Leben lebten, Scherben kitteten, hatten diese waidwunden Blicke keine Heilung erfahren. Sie sah Carl Vespa in die Augen – es war noch immer da.
    »Bitte«, sagte sie zu ihm. »Ich möchte einfach nur nach Hause.«

15
    Wu entdeckte das leere Schlüsselversteck.
    Der Stein lag auf dem Weg zur Hintertür auf dem Rücken wie ein gestrandeter Krebs. Das Fach war geöffnet. Der Schlüssel war weg. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er sich einem Haus genähert hatte, in das zuvor eingebrochen worden war. Damals war er sechs Jahre alt gewesen. Die Hütte – sie bestand aus einem Raum ohne jegliche sanitäre Anlagen – war sein Zuhause gewesen. Die Schergen der Kim-Regierung hatten sich nicht mit Höflichkeiten wie Schlüsseln aufgehalten. Sie hatten die Tür eingetreten und seine Mutter verschleppt. Wu hatte sie zwei Tage später gefunden. Sie hatten sie an einem Baum aufgeknüpft. Es war bei Todesstrafe verboten gewesen, sie abzuschneiden. Einen Tag später hatten die Vögel sie entdeckt.
    Man hatte seine Mutter fälschlicherweise des Verrats am Großen Führer angeklagt, doch Schuld oder Unschuld spielten keine Rolle. Man hatte ein Exempel statuiert. Seht her, so ergeht es denen, die sich uns widersetzen. Merkt euch: Das geschieht mit jedem, von dem wir annehmen, er könnte sich uns widersetzen.
    Um den sechsjährigen Eric kümmerte sich niemand. Kein Waisenhaus griff ihn auf. Er wurde kein Mündel des Staates. Eric Wu lief davon. Er schlief in den Wäldern. Er ernährte sich vom Abfall der anderen. Er überlebte. Mit dreizehn verhaftete man ihn wegen Diebstahls und warf ihn ins Gefängnis. Der Oberwärter, ein Mann krimineller als alle, über die er wachte, erkannte Wus Potenzial. Und so hatte es begonnen.
    Wu starrte auf das leere Schlüsselversteck hinab.
    Jemand war im Haus.
    Er blickte zum Nachbarhaus hinüber. Die Frau, die dort wohnte, beobachtete gern alles vom Fenster aus. Sie würde wissen, wo Freddy Sykes einen Schlüssel versteckte.

    Er überdachte seine Möglichkeiten. Er kam auf zwei.
    Eine konnte er allerdings gleich vergessen.
    Jack Lawson lag im Kofferraum. Wu hatte ein Auto. Er konnte abhauen, einen anderen Wagen stehlen, eine Reise antreten, sich irgendwo weit weg niederlassen.
    Doch das hatte einen Haken: Wus Fingerabdrücke waren überall im Haus verteilt. Und da war noch der schwer verletzte, vielleicht schon tote Freddy Sykes. Die Frau in der Reizwäsche, falls sie tatsächlich dahinter steckte, konnte ihn zu allem Übel auch noch identifizieren. Wu war erst kürzlich auf Bewährung aus der Haft entlassen worden. Der Staatsanwalt hatte ihn der schrecklichsten Verbrechen verdächtigt, konnte ihm allerdings nichts nachweisen. Nur deshalb hatte man einen Deal mit ihm gemacht. Und dafür hatte er ausgesagt. Wu hatte seine Zeit im Hochsicherheitsgefängnis von Walden, New York, abgesessen. Und im Vergleich zu dem, was er in seiner Heimat erlebt hatte, war diese Haftanstalt das reine Luxushotel.
    Was nicht bedeutete, dass er dorthin zurückkehren wollte.
    Nein, die erste Möglichkeit war nicht gut. Damit blieb nur die zweite.
    Wu öffnete lautlos die

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