Kein böser Traum
Ford Windstar parkte.
»Bleib zurück«, sagte sie.
»Wir sitzen in einem Auto mit Zentralverriegelung«, entgegnete Mike. »Was soll da schon passieren?«
Der Asiate bewegte sich mit geschmeidiger Eleganz und gleichzeitig so zielgerichtet, als habe er jede Bewegung im Voraus geplant. Es war ein geradezu göttliches Zusammenspiel von Muskeln und Gliedmaßen, das sich dem Betrachter bot. Plötzlich blieb er regungslos neben seinem Wagen stehen. Sein Arm schnellte vor, während sein übriger Körper wie losgelöst von dieser Bewegung in seiner Stellung verharrte, so dass man beinahe an eine optische Täuschung glaubte.
Und dann barst die Windschutzscheibe ihres Wagens.
Das Krachen explodierte wie aus heiterem Himmel und mit ohrenbetäubender Wucht. Charlaine schrie. Etwas klatschte ihr ins Gesicht. Es fühlte sich feucht und klebrig an. Der Geruch von Blei hing in der Luft. Charlaine duckte sich instinktiv. Es regnete Splitter von der Windschutzscheibe auf sie herab. Etwas Schweres fiel gegen sie und stieß sie vom Sitz.
Es war Mike.
Sie schrie zum zweiten Mal laut auf. In ihren Schrei mischte sich das Krachen des nächsten Schusses. Sie dachte nur noch daran, sich zu befreien, der Enge des Autos zu entkommen, sich und Mike in Sicherheit zu bringen. Mike bewegte sich nicht. Sie schob ihn zur Seite und riskierte es, den Kopf zu heben.
Die nächste Kugel pfiff dicht an ihr vorbei.
Sie hatte keine Ahnung, wo die Kugel einschlug. Sie duckte sich
sofort wieder. In ihren Ohren schrillte ein hoher Pfeifton. Wenige Sekunden vergingen. Charlaine riskierte erneut einen Blick.
Der Mann kam auf sie zu.
Was jetzt?
Flucht. Das war ihr einziger Gedanke.
Aber wie?
Sie legte den Rückwärtsgang ein. Mikes Fuß stand noch auf der Bremse. Sie duckte sich tiefer. Sie streckte die Hand aus, ergriff den schlaffen Fuß und schob ihn von der Bremse. In den Fußraum gezwängt, gelang es ihr, eine Handfläche auf das Gaspedal zu legen. Sie drückte es mit aller Kraft nach unten. Der Wagen schoss rückwärts. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Reise ging.
Aber sie fuhren.
Sie hielt das Gaspedal gedrückt. Der Wagen holperte über ein Hindernis. Vermutlich die Bürgersteigkante. Ihr Kopf schlug gegen die Lenksäule. Mit den Schulterblättern versuchte sie, das Lenkrad stabil zu halten, während sie eine Hand weiterhin auf das Gaspedal stemmte. Der Wagen ächzte und schwankte, als er in eine Vertiefung krachte. Charlaine hielt durch. Dann schien die Asphaltfläche ebener zu werden. Doch Erleichterung wollte sich nicht einstellen. Dröhnendes Hupen drang an Charlaines Ohr, Reifen und Bremsen quietschten. Es folgte das bedrohliche Schleif- und Schlingergeräusch schleudernder Autos.
Es gab einen Aufprall, Metall klirrte und wenige Sekunden später war nur noch Dunkelheit.
19
Die Farbe war aus Officer Daleys Gesicht gewichen.
Perlmutter richtete sich auf. »Was gibt’s?«
Daley starrte auf das Blatt Papier in seiner Hand, als könne es
sich jeden Moment in Luft auflösen. »Ergibt irgendwie keinen Sinn, Cap.«
Als junger Polizist hatte Captain Perlmutter Nachtschichten gehasst. Die Stille und die Einsamkeit hatten ihn fertig gemacht. Er war in einer großen Familie mit sieben Kindern aufgewachsen, und er liebte den Trubel. Er und seine Frau Marion hatten sich ebenfalls eine große Familie gewünscht. Er hatte sich alles schon genau vorgestellt – die Grillfeste, die Wochenenden, an denen er das eine oder andere Kind trainierte, die Elternabende, die Familienfilme am Freitagabend, die Sommerabende auf der Veranda – eben das Leben, das er in Brooklyn gekannt hatte, nur in einem größeren Haus in einem Vorort.
Seine Großmutter hatte die Angewohnheit gehabt, unaufhörlich jiddische Sprichworte zu zitieren. Einer von Perlmutters Lieblingssprüchen war »Der Mensch denkt, Gott lenkt«. Marion, die einzige Frau, die er je geliebt hatte, starb völlig unerwartet mit einunddreißig an einer Embolie. Sie war in der Küche gewesen und hatte Sam, ihrem einzigen Kind, ein Sandwich gemacht. Sie war sofort tot gewesen.
Im Grunde hatte Perlmutter an jenem Tag ebenfalls aufgehört zu existieren. Er tat, was er konnte, um Sammy großzuziehen, doch in Wirklichkeit war er nicht mit Herz und Verstand bei der Sache. Er liebte den Jungen, er liebte seinen Job, aber gelebt hatte er für Marion. Sein Bezirk und seine Arbeit waren sein einziger Trost. Zu Hause mit Sammy fühlte er sich immer nur an Marion und an
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