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Kein böser Traum

Kein böser Traum

Titel: Kein böser Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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eine Frau Mitte zwanzig – saß hinter einem Schreibtisch, der ebenfalls Historie vorgaukelte, in Wirklichkeit jedoch offensichtlich ein billiges Imitat war. Sie sah lächelnd zu Grace auf.
    »Guten Morgen. Ich bin Lindsey Barclay.«
    Grace erkannte die Stimme vom Telefon. »Ich möchte zu Mr. Dodd.«
    »Bobby ist auf seinem Zimmer. Zweiter Stock, Zimmer 211. Ich bringe Sie hin.«
    Sie stand auf. Lindsey war auf die Art hübsch, wie es nur die Jugend sein kann, mit jenem enthusiastischen Lächeln, das den Naiven oder den Menschenfängern von Sekten vorbehalten ist.
    »Haben Sie was dagegen, wenn wir die Treppe nehmen?«
    »Ganz und gar nicht.«
    Viele der Bewohner blieben stehen und grüßten. Lindsey nahm sich für jeden Einzelnen Zeit, erwiderte fröhlich jeden Gruß, obwohl Grace, die Zynikerin, sich fragte, ob das nicht als Show für die Besucherin gedacht war. Dennoch kannte Lindsey alle mit Namen. Sie wusste stets etwas zu sagen, durchaus auch Persönliches, und die Senioren schienen das zu schätzen.
    »Sind wohl hauptsächlich Frauen hier«, bemerkte Grace.
    »Während meiner Ausbildung sagten sie uns, dass in Seniorenheimen landesweit fünf Frauen auf einen Mann kommen.«

    »Donnerwetter.«
    »Ja. Bobby witzelt immer, er habe ein Leben lang auf diese Chance gewartet.«
    Grace lächelte.
    Sie winkte ab. »Aber das ist nur Gerede. Seine Frau – er nennt sie ›seine Maudie‹ – ist vor dreißig Jahren gestorben. Ich glaube nicht, dass er seither eine Frau auch nur angesehen hat.«
    Das brachte sie zum Schweigen. Der Korridor war ganz in Waldgrün gehalten, die Wände mit den inzwischen vertrauten Rockwell-Drucken geschmückt: Hunde beim Pokern, Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus Filmen wie Casablanca und Der Fremde im Zug. Grace hinkte neben Lindsey her. Lindsey merkte es – und Grace merkte es an ihren hastigen Seitenblicken –, doch wie die meisten Menschen sagte sie nichts.
    »Wir bei Sunrise teilen unsere Häuser in unterschiedliche ›Nachbarschaften‹ ein«, erklärte Lindsey. »So nennen wir Korridore wie diesen. Jeder hat ein anderes Motto. Die Nachbarschaft hier heißt ›Nostalgie‹. Wir glauben, unsere Bewohner fühlen sich dadurch heimischer.«
    Sie blieben vor einer Tür stehen. Auf einem Namensschild rechts stand »B. Dodd«. Lindsey klopfte. »Bobby?«
    Keine Antwort. Sie öffnete trotzdem. Sie betraten einen kleinen, aber gemütlichen Raum. Zur Rechten befand sich eine winzige Kochnische. Auf dem Couchtisch, der so ausgerichtet war, dass man ihn von Couch und Bett aus sehen konnte, stand das große Schwarz-Weiß-Foto einer attraktiven Frau, die ein wenig wie Lena Horne, die Jazzsängerin, aussah. Auf dem mittlerweile vergilbten Bild war sie ungefähr vierzig.
    »Das ist ›seine Maudie‹.«
    Grace nickte, einen Moment gefangen von diesem Foto im Silberrahmen. Sie dachte erneut an »ihren Jack«. Zum ersten Mal gestattete sie es sich, das Undenkbare zu denken: dass Jack vielleicht nie wieder zurückkommen würde. Das war ein Gedanke,
den sie von dem Augenblick an verdrängt hatte, da sie den Anlasser des Minivans in der Auffahrt gehört hatte. Möglicherweise sah sie Jack nie wieder. Möglicherweise hielt sie ihn nie wieder in ihren Armen. Möglicherweise lachte sie nie wieder über einen seiner unanständigen Witze. Möglicherweise – und das war die Verbindung zu diesem Heim – wurde sie nie mit ihm alt.
    »Alles in Ordnung?«
    »Bestens.«
    »Vermutlich ist Bobby oben bei Ira in ›Reminiscence‹. Sie spielen Karten.«
    Sie traten rückwärts aus dem Zimmer. »Ist ›Reminiscence‹ eine andere Nachbarschaft?«
    »Nein. ›Reminiscence‹ ist die Bezeichnung für den gesamten dritten Stock. Er ist unseren Alzheimerpatienten vorbehalten.«
    »Oh.«
    »Ira erkennt zwar seine Kinder nicht mehr, aber er spielt knallhart Poker.«
    Sie traten wieder in den Korridor hinaus. Grace entdeckte eine Ansammlung von Fotos neben Bobby Dodds Tür. Sie sah genauer hin. Es war einer dieser Glassammelrahmen, die man benutzte, um Erinnerungsstücke auszustellen. Da waren militärische Orden. Ein alter vergilbter Baseball. Fotos von jedem Lebensabschnitt des Mannes. Ein Foto zeigte seinen ermordeten Sohn Bob Dodd. Es war das Bild, das sie vergangene Nacht im Computer gesehen hatte.
    »Der Erinnerungskasten«, sagte Lindsey. »Jeder Bewohner bei uns hat ihn neben seiner Tür. Auf diese Weise weiß jeder, mit wem er es zu tun hat.«
    Grace nickte. Die Reduzierung eines ganzen Menschenlebens auf eine

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