Kein Engel so rein
festmachen. Der Fall bewegte sich aus dem Reich der polizeilichen Ermittlungen in das Reich der Gerichte. Es mussten immer noch umfangreiche Ermittlungen angestellt werden, aber alle Fälle veränderten sich, sobald ein Verdächtiger unter Anklage gestellt und inhaftiert wurde und die Strafverfolgung begann. Meistens erfüllte es Bosch mit Erleichterung und Genugtuung, wenn er einen Mörder ins Gefängnis einliefern konnte. Dann kam er sich wie der Größte vor, weil er etwas Sinnvolles getan hatte. Aber diesmal war es nicht so, und er war sich nicht sicher, warum.
Schließlich führte er seine Bedenken auf seine eigenen Fehltritte und die unkontrollierbaren Bewegungen des Falls zurück. Er fand, er hatte keinen Grund, zu feiern oder sich wie der Größte zu fühlen, weil der Fall einen so hohen Preis gefordert hatte. Gewiss, sie hatten den geständigen Mörder eines Kindes bei sich im Auto und brachten ihn ins Gefängnis. Aber Nicholas Trent und Julia Brasher waren tot. Das Haus, das er aus dem Fall gebaut hatte, würde immer Zimmer mit ihren Geistern haben. Sie würden ihn immer verfolgen.
»Haben Sie eben über meine Tochter gesprochen? Werden Sie mit ihr reden?«
Bosch sah in den Rückspiegel. Weil sie ihm die Handschellen am Rücken angelegt hatten, saß Delacroix weit nach vorn gebeugt da. Bosch musste den Rückspiegel verstellen und die Innenbeleuchtung anmachen, um seine Augen sehen zu können.
»Ja. Wir werden ihr die Nachricht überbringen.«
»Muss das sein? Müssen Sie sie da reinziehen?«
Bosch beobachtete ihn eine Weile im Rückspiegel. Delacroix’ Augen wanderten hin und her.
»Wir haben keine andere Wahl«, sagte Bosch. »Es ist ihr Bruder, ihr Vater.«
Bosch nahm die Ausfahrt Los Angeles Street. In fünf Minuten würden sie am Einlieferungseingang auf der Rückseite des Parker Center eintreffen.
»Was werden Sie ihr erzählen?«
»Was Sie uns erzählt haben. Dass Sie Arthur umgebracht haben. Wir würden es ihr gern sagen, bevor die Journalisten bei ihr anrücken oder bevor sie es in den Nachrichten sieht.«
Er warf einen Blick in den Spiegel. Er sah Delacroix zustimmend nicken. Dann blickte Delacroix auf und sah Bosch im Spiegel an.
»Könnten Sie ihr was von mir ausrichten?«
»Was?«
Bosch griff in seine Jackentasche nach dem Tonbandgerät, doch dann merkte er, dass er es nicht dabei hatte. Insgeheim verfluchte er Bradley und seine eigene Entscheidung, mit der Dienstaufsicht zu kooperieren.
Delacroix blieb einen Moment still. Er bewegte den Kopf hin und her, als suchte er nach dem, was er seiner Tochter sagen wollte. Dann blickte er wieder in den Spiegel und sagte: »Sagen Sie ihr bloß, dass mir alles Leid tut. Nur das. Dass mir alles Leid tut. Sagen Sie ihr das.«
»Ihnen tut alles Leid. Alles klar. Sonst noch was?«
»Nein, nur das.«
Edgar drehte sich um, damit er Delacroix hinter sich ansehen konnte.
»Es tut Ihnen also Leid?«, sagte er. »Ein bisschen spät nach zwanzig Jahren, finden Sie nicht auch?«
Bosch bog in die Los Angeles Street. Er konnte nicht in den Rückspiegel schauen, um Delacroix’ Reaktion zu sehen.
»Was wissen Sie denn schon?«, erwiderte Delacroix aufgebracht. »Ich weine jetzt schon zwanzig Jahre.«
»Klar«, konterte Edgar. »In ihren Whiskey vielleicht. Aber nicht genug, um etwas zu unternehmen, bevor wir aufgetaucht sind. Nicht genug, um aus Ihrer Flasche zu kriechen und sich zu stellen und Ihren Jungen aus der Erde zu holen, solange noch genug von ihm übrig war für ein anständiges Begräbnis. Alles, was wir haben, sind Knochen, wissen Sie. Knochen.«
Jetzt sah Bosch in den Spiegel. Delacroix schüttelte den Kopf und beugte sich noch weiter vor, bis sein Kopf die Rückseite des Vordersitzes berührte.
»Ich konnte es nicht«, sagte er. »Ich habe nicht mal –«
Er brach ab, und Bosch beobachtete im Rückspiegel, wie Delacroix’ Schultern zu zucken begannen. Er weinte.
»Was haben Sie nicht mal getan?«, fragte Bosch.
Delacroix antwortete nicht.
»Was haben Sie nicht mal getan?«, fragte Bosch lauter.
Dann hörte er, wie sich Delacroix auf den Boden vor dem Rücksitz erbrach.
»Scheiße!«, fluchte Edgar. »Wusste ich’s doch, dass das kommen würde.«
Das Wageninnere füllte sich mit dem stechenden Geruch einer Ausnüchterungszelle. Kotze auf Alkoholbasis. Trotz der frischen Januarluft kurbelte Bosch sein Fenster ganz nach unten. Edgar machte dasselbe. Bosch bog auf das Gelände des Parker Center.
»Ich glaube, diesmal bist du
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