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Kein Engel so rein

Kein Engel so rein

Titel: Kein Engel so rein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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aus.
    Am Heck des Wagens blickte er sich noch einmal um, bevor er den Kofferraumdeckel anhob. Im Kofferraum lag ein Dummy, den er sich von Jesper von der Spurensicherung geborgt hatte. Solche Dummys wurden gelegentlich verwendet, um Verbrechen nachzustellen, insbesondere fragliche Selbstmordsprünge und Autounfälle. Es gab die Puppen in allen Größen, vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Außerdem hatten sie an Rumpf und Gliedern mit Reißverschlüssen versehene Taschen, die sich zur Gewichtsanpassung nach Bedarf mit ein Pfund schweren Sandsäckchen füllen ließen.
    Auf die Brust des gesichtslosen Dummy in Boschs Kofferraum war mit einer Schablone SID geschrieben. Bosch und Jesper hatten sein Gewicht im Labor auf zweiunddreißig Kilo gebracht, das Gewicht, das Golliher anhand des Knochenbaus und der Fotos von Arthur Delacroix errechnet hatte. Der Dummy trug einen in einem Laden gekauften Rucksack ähnlich dem, der bei der Freilegung der Knochen geborgen worden war. Er war mit alten Lumpen aus dem Kofferraum des Slickback gefüllt, die ungefähr den Kleidungsstücken entsprachen, die zusammen mit den Knochen gefunden worden waren.
    Bosch legte die Taschenlampe beiseite, packte den Dummy an den Oberarmen, zog ihn aus dem Kofferraum und wuchtete ihn auf seine linke Schulter. Dann machte er, um einen besseren Stand zu bekommen, einen Schritt zurück und nahm die Taschenlampe aus dem Kofferraum. Es war eine billige Drugstorelampe ähnlich der, die Samuel Delacroix seiner Aussage zufolge in der Nacht verwendet hatte, in der er seinen Sohn begraben hatte. Bosch machte sie an und ging los.
    Sobald das Gelände steiler wurde, merkte er, dass er beide Hände brauchen würde, um sich an Ästen festhalten und den Hang hinaufziehen zu können. Er steckte die Taschenlampe in eine seiner Vordertaschen, aber so beleuchtete ihr Strahl nur die Baumkronen und nützte ihm nichts mehr.
    In den ersten fünf Minuten fiel er zweimal hin, und obwohl er sich noch nicht einmal zehn Meter den steilen Hang hinaufgearbeitet hatte, ließen seine Kräfte nach. Ohne das Licht der Taschenlampe übersah er einen kleinen dürren Zweig und riss sich daran die Wange auf. Er fluchte, setzte aber den Aufstieg fort.
    Nachdem er sich fünfzehn Meter den Hügel hinauf gearbeitet hatte, machte Bosch zum ersten Mal Pause. Er legte den Dummy neben den Stamm einer Montereykiefer und setzte sich auf seine Brust. Er zog sein T-Shirt aus dem Hosenbund und versuchte damit die Blutung auf seiner Wange zu stoppen. Die Wunde brannte von dem Schweiß, der sein Gesicht hinunterlief.
    »Also, Sid, dann wollen wir mal wieder«, sagte er, als er wieder zu Atem gekommen war.
    Die nächsten fünf Meter zog er den Dummy den Hügel hinauf. So kam er zwar langsamer voran, aber es war weniger anstrengend, als sein volles Gewicht zu tragen. Außerdem hatte Delacroix gesagt, dass er es so gemacht hatte.
    Nach einer weiteren Pause schaffte Bosch die letzten zehn Meter zu dem flachen Stück hinauf und zog den Dummy auf die Lichtung unter den Akazien. Er sank in die Knie und setzte sich auf seine Fersen.
    »Ausgeschlossen«, stieß er, um Atem ringend, hervor. »Vollkommen ausgeschlossen.«
    Er konnte sich nicht vorstellen, dass Delacroix das geschafft hatte. Er war zwar etwa zehn Jahre älter, als Delacroix gewesen war, als er angeblich den gleichen Kraftakt vollbracht hatte, aber Bosch war für sein Alter in guter körperlicher Verfassung. Außerdem war er nüchtern, und das war Delacroix seiner Aussage zufolge nicht gewesen.
    Obwohl Bosch es geschafft hatte, die Leiche zu der Begräbnisstelle zu schaffen, sagte ihm sein Gefühl, dass Delacroix sie belogen hatte. So, wie er es ihnen geschildert hatte, konnte er es nicht gemacht haben. Entweder hatte er die Leiche nicht den Hügel hinauf geschleppt, oder jemand hatte ihm geholfen. Und es gab noch eine dritte Möglichkeit: Arthur Delacroix war noch am Leben gewesen und selbst den Hügel hinaufgeklettert.
    Endlich ging Boschs Atem wieder normal. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte durch die Öffnung im Laubdach der Bäume nach oben. Er konnte den Nachthimmel und hinter einer Wolke einen Teil des Mondes sehen. Er konnte brennendes Holz aus dem Kamin eines der Häuser unten am Wendekreis riechen.
    Er zog die Taschenlampe aus der Tasche und nahm den Dummy an dem Tragegurt, der an seinem Rücken festgenäht war. Da zu dem Versuch nicht gehörte, den Dummy auch wieder den Hügel hinunterzutragen, hatte er vor, ihn an dem Gurt hinter

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