Kein Engel so rein
sich herzuziehen. Er wollte gerade aufstehen, als er etwa zehn Meter entfernt ein leises Rascheln im Unterholz hörte.
Sofort richtete er die Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen durch das Gestrüpp streifenden Kojoten, der blitzschnell aus dem Lichtkegel huschte und verschwand. Bosch schwenkte die Lampe hin und her, bekam den Kojoten aber nicht mehr zu sehen. Er stand auf und begann, den Dummy auf den Abhang zuzuziehen.
Der Abstieg war dank der Gesetze der Schwerkraft zwar weniger anstrengend, aber genauso tückisch. Während er vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, dachte Bosch über den Kojoten nach. Er fragte sich, wie alt Kojoten wurden und ob das Tier, das er gerade gesehen hatte, zwanzig Jahre zuvor einen anderen Mann beobachtet haben könnte, wie er an derselben Stelle eine Leiche verscharrt hatte.
Bosch schaffte es den Abhang hinunter, ohne hinzufallen. Als er den Dummy über das letzte flache Stück zur Straße trug, sah er Dr. Guyot und seinen Hund neben dem Slickback stehen. Der Hund war an der Leine. Bosch ging rasch zum Kofferraum, warf den Dummy hinein und schlug den Deckel zu. Guyot kam auf ihn zu.
»Detective Bosch.«
Er schien Bosch bewusst nicht zu fragen, was er da machte.
»Doktor Guyot. Wie geht’s?«
»Besser als Ihnen, fürchte ich. Sie haben sich schon wieder verletzt. Das sieht nach einer bösen Risswunde aus.«
Bosch fasste an seine Wange. Sie brannte immer noch.
»Nicht weiter schlimm. Nur ein Kratzer. Aber lassen Sie Calamity lieber an der Leine. Ich habe da oben gerade einen Kojoten gesehen.«
»Nachts lasse ich sie sowieso nie von der Leine. In den Hügeln wimmelt es von streunenden Kojoten. Wir können sie nachts oft hören. Kommen Sie lieber mit zu mir. Ich verbinde Sie. Wenn man das nicht richtig macht, bleibt eine Narbe.«
Plötzlich musste Bosch daran denken, wie Julia Brasher ihn nach seinen Narben gefragt hatte. Er sah Guyot an.
»Okay.«
Sie ließen den Wagen am Kreis stehen und gingen zu Guyots Haus. Im Arbeitszimmer setzte sich Bosch auf den Schreibtisch, während ihm der Doktor die Wunde säuberte und dann mit zwei Klammerpflastern verband.
»Sie werden es jedenfalls überleben.« Guyot schloss seinen Erste-Hilfe-Koffer. »Aber bei Ihrem Hemd bin ich mir da nicht so sicher.«
Bosch blickte auf sein T-Shirt hinab. Sein unterer Rand war voll von seinem Blut.
»Vielen Dank, Doc. Wie lange muss ich diese Dinger dran-lassen?«
»Ein paar Tage. Wenn Sie es so lange aushalten.«
Vorsichtig betastete Bosch seine Wange. Sie war leicht angeschwollen, aber die Wunde brannte nicht mehr. Guyot blickte von seinem Erste-Hilfe-Koffer zu ihm auf, und Bosch merkte, dass er etwas sagen wollte. Er vermutete, er würde ihn nach dem Dummy fragen.
»Was ist, Doktor?«
»Die Polizistin, die am ersten Abend hier war. Ist das die, die ums Leben gekommen ist?«
Bosch nickte.
»Ja, das war sie.«
Guyot schüttelte in aufrichtiger Trauer den Kopf. Er ging langsam hinter den Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken.
»Schon komisch, wie sich die Dinge manchmal ergeben«, sagte er. »Eine Kettenreaktion. Mr. Trent von gegenüber. Diese Polizistin. Alles nur, weil ein Hund einen Knochen apportiert hat. Für ihn etwas vollkommen Natürliches.«
Bosch konnte nur nicken. Er begann, das T-Shirt in seine Hose zu stopfen, um zu sehen, ob sich der Teil mit den Blutflecken verbergen ließ.
Guyot blickte auf den Hund hinab, der neben dem Schreibtischstuhl lag.
»Hätte ich sie bloß nicht von der Leine gelassen«, sagte er schließlich.
Bosch rutschte vom Schreibtisch und stellte sich hin. Er sah auf seinen Bauch hinab. Die Blutflecken waren zwar nicht mehr zu sehen, aber es spielte keine Rolle, weil das T-Shirt voller Schweißflecken war.
»Ich weiß nicht, Dr. Guyot«, sagte er. »Ich glaube, wenn man so zu denken anfängt, darf man nicht mehr vor die Tür treten.«
Sie sahen sich gegenseitig an und nickten sich zu. Bosch deutete auf seine Wange.
»Nochmals vielen Dank. Ich finde allein raus.«
Er wandte sich zur Tür. Guyot hielt ihn zurück.
»Im Fernsehen kam eine Ankündigung für die Nachrichten. Darin hieß es, die Polizei hätte bekannt gegeben, es wäre in dem Fall zu einer Festnahme gekommen. Ich wollte sie mir um elf ansehen.«
Bosch blickte von der Tür zu ihm zurück.
»Glauben Sie nicht alles, was Sie im Fernsehen sehen.«
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Gerade als Bosch den ersten Teil von Delacroix’
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