Kein Engel so rein
diesen letzten Tag noch etwas, das Sie uns bisher nicht erzählt haben? Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte?«
Sie nickte kaum merklich, dann senkte sie den Kopf und verbarg ihr Gesicht hinter ihren erhobenen Fäusten.
»Ich wusste, dass er ausreißen wollte«, sagte sie langsam. »Und ich habe nichts unternommen, um ihn davon abzuhalten.«
Bosch rutschte nach vorn auf die Stuhlkante. Er fragte sehr behutsam: »Wie das, Sheila?«
Sie antwortete erst nach einer langen Pause.
»Als ich an diesem Tag von der Schule nach Hause kam. Er war da. In seinem Zimmer.«
»Er kam also noch nach Hause?«
»Ja. Ganz kurz. Seine Tür stand einen Spalt breit offen und ich schaute in sein Zimmer. Er bemerkte mich nicht. Er packte Verschiedenes in seine Schultasche. Kleider, solche Sachen. Mir war klar, was er vorhatte. Er packte und wollte von zu Hause weg. Ich … ich ging nur in mein Zimmer und schloss die Tür. Ich wollte, dass er ging. Wahrscheinlich habe ich ihn gehasst, ich weiß es nicht. Jedenfalls wollte ich ihn los sein. Für mich war er an allem schuld. Ich wollte nur, dass er verschwand. Ich blieb in meinem Zimmer, bis ich hörte, wie die Haustür zuging.«
Sie hob den Kopf und sah Bosch an. Ihre Augen waren feucht, aber Bosch hatte schon oft beobachtet, dass mit dem Büßen einer Schuld und mit der Wahrheit eine Stärke kam. Er sah sie jetzt in ihren Augen.
»Ich hätte ihn zurückhalten können, aber ich habe es nicht getan. Und das ist, womit ich die ganze Zeit leben musste. Jetzt, wo ich weiß, was aus ihm geworden ist …«
Ihr Blick ging an Bosch vorbei, auf eine Stelle über seiner Schulter, wo sie die Woge aus Schuld auf sich zukommen sah.
»Danke, Sheila«, sagte Bosch leise. »Gibt es sonst noch etwas, was uns weiterhelfen könnte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann lassen wir Sie jetzt in Ruhe.«
Er stand auf und stellte den Stuhl an seinen alten Platz in der Mitte des Zimmers zurück. Dann kehrte er an den Schreibtisch zurück und nahm den Umschlag mit den Polaroids. Er ging zur Tür, und Edgar öffnete sie.
»Was passiert jetzt mit ihm?«, fragte Sheila Delacroix.
Sie drehten sich um und blickten zu ihr zurück. Edgar schloss die Tür wieder. Bosch wusste, sie meinte ihren Vater.
»Nichts«, sagte er. »Was er Ihnen angetan hat, ist längst verjährt. Er kann in seinen Wohnwagen zurück.«
Sie nickte, ohne zu Bosch aufzublicken.
»Sheila, er mag mal ein Zerstörer gewesen sein. Aber die Zeit hat es so an sich, Dinge zu ändern. Sie ist ein Kreislauf. Sie entzieht Macht und verleiht sie denen, die einmal keine hatten. Im Moment ist Ihr Vater derjenige, der zerstört ist. Glauben Sie mir. Er kann Ihnen nicht mehr weh tun. Er ist ein Nichts.«
»Was werden Sie mit den Fotos machen?«
Bosch blickte auf den Umschlag in seiner Hand hinab und sah dann wieder sie an.
»Sie gehören in die Akte. Niemand wird sie zu sehen bekommen.«
»Ich möchte sie verbrennen.«
»Verbrennen Sie die Erinnerungen.«
Sie nickte. Als Bosch sich zum Gehen wandte, hörte er sie lachen und sah sich nach ihr um. Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist?«
»Nichts. Nur, dass ich mir hier den ganzen Tag Leute anhören muss, die so zu klingen versuchen wie Sie. Und ich weiß jetzt schon, niemand wird es auch nur annähernd so hinkriegen wie Sie. Niemand wird den richtigen Ton treffen.«
»Das ist eben Showbusiness«, sagte Bosch.
Als er und Edgar den Flur zur Treppe zurückgingen, kamen sie wieder an den Schauspielern vorbei. Im Treppenhaus sagte der, der Frank hieß, laut seinen Text auf. Er lächelte die echten Detectives an, als sie vorbeigingen.
»Hey, Sie beide, Sie sind doch echt, oder? Wie, finden Sie, habe ich meine Sache da drinnen gemacht?«
Bosch antwortete nicht.
»Sie waren toll, Frank«, sagte Edgar. »Sie sind ein echter Closer. Der Beweis ist im Pudding.«
46
Am Freitagnachmittag um zwei Uhr gingen Bosch und Edgar durch den Bereitschaftsraum zum Morddezernattisch. Sie hatten auf der Fahrt von der Westside nach Hollywood so gut wie kein Wort gesprochen. Es war der zehnte Tag des Falls, und sie waren dem Mörder von Arthur Delacroix nicht dichter auf der Spur als in all den Jahren, in denen die Knochen des Jungen stumm auf dem Hügel oberhalb der Wonderland Avenue gelegen hatten. Alles, was sie für ihre zehntägigen Ermittlungen vorzuweisen hatten, waren eine tote Polizistin und der Selbstmord eines offensichtlich bekehrten Päderasten.
Wie üblich lag auf Boschs Platz ein Packen rosaroter
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