Kein Engel so rein
klar, dass Sam dem Jungen einen bleibenden Schaden zugefügt hatte. Irgendetwas stimmte einfach nicht mit ihm.«
»Haben Sie abgesehen von dem einen Mal, als er Sie geschlagen hat, nie mitbekommen, dass er Arthur oder Sheila geschlagen hat?«
»Es ist nicht auszuschließen, dass er Sheila mal versohlt hat. Aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Er hat die Kinder nie geschlagen. Dafür hatte er mich.«
Bosch nickte. Für ihn ergab sich daraus die zwangsläufige Frage, wer als Opfer hatte herhalten müssen, als sie nicht mehr da war. Bosch dachte an die auf dem Obduktionstisch ausgebreiteten Knochen und die vielen Verletzungen, die Dr. Golliher. aufgezählt hatte.
»Ist mein Ma– ist Sam in Haft?«
Bosch sah sie an.
»Nein. Wir sammeln derzeit noch Fakten. Die sterblichen Überreste Ihres Sohnes deuten darauf hin, dass er über einen längeren Zeitraum hinweg massiven Misshandlungen ausgesetzt war. Wir sind noch dabei herauszufinden, wie es dazu kam.«
»Und Sheila? Wurde sie …?«
»Wir haben Sie noch nicht gezielt danach gefragt. Das werden wir aber noch. Mrs. Waters, wenn Ihr Mann Sie geschlagen hat, hat er das dann immer mit den Händen getan?«
»Manchmal schlug er mich auch mit Gegenständen. Einmal mit einem Schuh, erinnere ich mich. Er drückte mich auf den Boden und schlug damit auf mich ein. Und einmal warf er mit seiner Aktentasche nach mir. Er traf mich in die Rippen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was?«
»Nichts. Nur diese Aktentasche. Er nahm sie zu allen Vorsprechproben mit. Als ob er so ungeheuer wichtig wäre und so viele Projekte laufen hätte. Dabei war alles, was er darin hatte, ein paar Bewerbungsfotos und ein Flachmann.«
Selbst nach so vielen Jahren brannte Bitterkeit in ihrer Stimme.
»Mussten Sie mal ins Krankenhaus oder in die Notaufnahme? Gibt es konkrete Beweise für die Misshandlungen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er hat mich nie so schwer verletzt, dass ich ins Krankenhaus musste. Außer bei dieser Geschichte mit Arthur, aber da habe ich gelogen. Ich sagte, ich wäre gefallen und davon wäre die Fruchtblase geplatzt. Wissen Sie, Detective, ich wollte nicht, dass es alle Welt erfährt.«
Bosch nickte.
»Als Sie Ihre Familie schließlich verlassen haben, war das geplant? Oder sind Sie eines Tages einfach gegangen?«
Sie antwortete zunächst nicht, sondern betrachtete die Erinnerung auf einem Bildschirm in ihrem Innern.
»Die Briefe an meine Kinder schrieb ich lange, bevor ich ging. Ich trug sie in meiner Handtasche mit mir herum und wartete einen günstigen Moment ab. An dem Abend, an dem ich schließlich ging, steckte ich sie unter ihre Kissen. Ich nahm nur meine Handtasche mit und die Sachen, die ich anhatte. Und mein Auto, das uns mein Vater zur Hochzeit geschenkt hatte. Das war alles. Ich hatte die Nase voll. Ich sagte ihm, wir bräuchten Medizin für Arthur. Er hatte getrunken. Er sagte, ich solle gehen und welche besorgen.«
»Und Sie sind nicht mehr zurückgekommen?«
»Kein einziges Mal. Etwa ein Jahr später, bevor ich hier raus nach Springs kam, fuhr ich nachts mal am Haus vorbei. Sah die Lichter brennen. Ich habe nicht angehalten.«
Bosch nickte. Ihm fiel nichts ein, was er sonst noch fragen könnte. Obwohl sich die Frau gut an diese frühe Phase ihres Lebens erinnern konnte, würden ihnen ihre Erinnerungen nicht helfen, ihrem Ex-Mann einen Mord anzuhängen, den er zehn Jahre, nachdem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, begangen haben müsste. Vielleicht hatte Bosch das schon die ganze Zeit gewusst – dass sie nichts Wesentliches zur Lösung des Falls beitragen würde. Vielleicht hatte er sich nur ein Bild von einer Frau machen wollen, die ihre Kinder bei einem Mann zurückließ, den sie für ein Monster hielt.
»Wie sieht sie aus?«
Im ersten Moment wusste Bosch mit ihrer Frage nichts anzufangen.
»Meine Tochter.«
»Ähm, sie ist blond wie Sie. Ein bisschen größer, kräftiger gebaut. Keine Kinder, nicht verheiratet.«
»Wann wird Arthur begraben?«
»Das weiß ich nicht. Das müssten Sie im gerichtsmedizinischen Institut erfragen. Oder Sie könnten sich mit Sheila in Verbindung setzen, um zu sehen, ob …«
Er brach mitten im Satz ab. Er durfte sich nicht darauf einlassen, die dreißig Jahre alten Risse im Leben anderer Menschen zu kitten.
»Ich glaube, das war’s, Mrs. Waters. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Ja, vielen Dank«, sagte Edgar mit unverhohlenem Sarkasmus.
»Sie sind den weiten Weg hier raus gekommen, um so wenige
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