Kein Engel so rein
erhalten, den Sie rausgegeben haben. Für einen John Stokes? Wie soll ich darauf reagieren? Ist er ein neuer Verdächtiger?«
Bosch ärgerte sich. Ihm war klar gewesen, dass die Medien früher oder später von dem bei jedem Appell verteilten »Be on the Lookout«-Zettel erfahren würden, mit dem die Streifenpolizisten aufgefordert wurden, nach Johnny Stokes Ausschau zu halten. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell dazu käme.
»Nein, er ist kein Verdächtiger«, sagte er zu Medina. »Und wenn uns die Journalisten wieder genauso reinpfuschen wie bei Trent, finden wir den Kerl nie. Wir würden nur gern mit ihm reden. Er kannte das Opfer. Vor vielen Jahren.«
»Haben Sie das Opfer denn inzwischen identifiziert?«
Bevor Bosch antworten konnte, summte das Telefon. Billets ging dran und legte Deputy Chief Irving auf die Freisprechanlage.
»Chief, wir haben die Detectives Bosch und Edgar hier sowie Officer Medina von der Pressestelle.«
»Sehr gut«, dröhnte Irvings Stimme aus dem Lautsprecher der Telefonanlage. »Wie sieht es inzwischen aus?«
Billets begann, auf einen Knopf ihres Telefons zu tippen, um die Lautstärke zu reduzieren.
»Äh, könnten Sie das vielleicht übernehmen, Harry?«, sagte sie.
Bosch griff in die Innentasche seines Sakkos und holte sein Notizbuch heraus. Er ließ sich Zeit. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Irving jetzt in seinem Büro im Parker Center an seinem makellosen Glasschreibtisch saß und wartete, dass Stimmen aus dem Telefon kamen. Er schlug das Notizbuch auf einer Seite auf, die er diesen Morgen beim Frühstück mit Julia vollgeschrieben hatte.
»Detective, sind Sie da?«, fragte Irving.
»Äh, ja, Sir, natürlich bin ich da. Ich habe nur noch ein paar Notizen durchgesehen. Ähm, das Wichtigste ist, wir haben eine definitive Identifizie rung des Opfers. Der Junge heißt Arthur Delacroix. Er verschwand am vierten Mai neunzehnhundertachtzig aus dem Haus seiner Eltern in der Miracle Mile. Er war zwölf Jahre alt.«
In Erwartung von Fragen machte er an dieser Stelle eine Pause. Er bekam mit, dass sich Medina den Namen notierte.
»Ich weiß nicht, ob wir ihn schon bekannt geben sollen«, sagte Bosch.
»Wieso nicht?«, fragte Irving. »Soll das heißen, die Identifizierung ist nicht hundertprozentig?«
»Nein, wir sind hundertprozentig sicher, Chief. Es ist nur so: Wenn wir den Namen bekannt geben, posaunen wir möglicherweise hinaus, in welcher Richtung wir jetzt weiterermitteln.«
»Und in welcher wäre das?«
»Na ja, wir sind ziemlich sicher, dass Nicholas Trent nichts mit der Sache zu tun hatte. Deshalb konzentrieren wir uns jetzt auf andere Aspekte. Der Obduktionsbefund – die Verletzungen der Knochen – deuten auf chronische Misshandlungen hin, die in früheste Kindheit zurückreichen. Die Mutter ist schon früh von der Bildfläche verschwunden, deshalb nehmen wir jetzt den Vater unter die Lupe. Bisher haben wir noch keinen Kontakt mit ihm aufgenommen. Wir sammeln noch Material. Wenn wir jetzt allerdings bekannt geben, dass wir den Jungen identifiziert haben, und der Vater bekommt es mit, warnen wir ihn möglicherweise, ohne dass das nötig wäre.«
»Wenn er es war, der den Jungen dort oben verscharrt hat, ist er bereits gewarnt.«
»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber er weiß auch, dass wir unmöglich eine Verbindung zu ihm herstellen können, solange wir den Jungen nicht identifiziert haben. Solange wir ihn nicht identifizieren können, hat er nichts zu befürchten. Das gibt uns etwas mehr Zeit, ihn unter die Lupe zu nehmen.«
»Verstehe«, sagte Irving.
In den paar Momenten, die sie darauf schweigend dasaßen, wartete Bosch, dass Irving noch etwas sagte. Aber das tat er nicht. Bosch sah Billets an und breitete in einer Was-ist-jetzt?-Geste die Hände aus. Sie zuckte mit den Schultern.
»Dann …«, begann Bosch, »geben wir ihn also nicht bekannt, oder?«
Schweigen. Dann: »Das halte ich für das Vernünftigste«, sagte Irving.
Medina riss die Seite, auf die er geschrieben hatte, aus seinem Notizblock, zerknüllte sie und warf sie in den Mülleimer in der Ecke.
»Gibt es irgendetwas, was wir bekannt geben können?« , fragte Irving.
»Ja«, sagte Bosch rasch. »Wir können sagen, dass Trent nichts damit zu tun hatte.«
»Auf keinen Fall«, erwiderte Irving genauso schnell. »Das machen wir am Schluss. Wenn es Ihnen gelingt, den Fall vor Gericht zu bringen, erledigen wir den Rest.«
Bosch sah Edgar und dann Billets an.
»Chief«,
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