Kein Entrinnen
weiße Grabplatte. Die Grabplatte von Mycroft Doyle, 1929-2006!
»Ja«, meinte Mary lächelnd. »Dem alten Mycroft wurde eine Vorzugsbehandlung zuteil! Er lebte mehr als vierzig Jahre hier. Es war sein Wunsch, hier in Frieden zu ruhen. Die Beerdigung war sehr bewegend.«
Franklin entzifferte: Und jeder sei verflucht, der meine Gebeine stört . Berühmt. Es war die Inschrift auf Shakespeares Grab.
»Bescheiden, der Meister …«
Etwas weiter entfernt, noch immer im Wald, entdeckte Franklin ein Häuschen, das von einem kleinen Garten umgeben war.
»Das ist Doyles Pavillon. Das Klassenzimmer der Studenten für Kreatives Schreiben und englische Literatur. Ihre Klasse.«
»Sie scherzen wohl?«
Das schräge Dach war bis auf den Boden herabgezogen, die Mauern waren aus alten Steinen und zum Teil mit Efeu überwuchert, der im Augenblick nur dürre Ranken besaß. Ein trostloser Anblick. Die Fenster waren klein, die Tür aus verwittertem Holz. Mary holte einen Schlüsselbund hervor.
Sie drückte auf einen Schalter, der an einem Elektrokabel hing, und fünf Lampen gingen zusammen an. Sie verbreiteten ein behagliches Licht, das von dicken Lampenschirmen gedämpft wurde. Entgegen den Erwartungen, die das Äußere geweckt hatte, roch Franklin weder Schimmel noch verfingen sich seine Haare in Spinnweben. Der Raum war ganz passabel als Klassenzimmer; ein Dutzend Tische waren um einen zentralen Schreibtisch, den Platz des Professors, angeordnet. Regale voller Enzyklopädien, Lexika und Handbücher aller Art bedeckten die Wände. Rechts von der Tür waren Korbmöbel lose aufeinandergestapelt. Franklin vermutete, dass der Unterricht bei schönem Wetter im Garten des Pavillons stattgefunden haben musste.
»Doyle arbeitete nicht wirklich hier, sondern im Obergeschoss«, sagte Mary.
Dort oben bot sich ihm wieder ein anderes Bild. Der Raum hatte nichts mit einem Klassenzimmer zu tun, sondern glich vielmehr einem englischen Literaturklub oder einem Rückzugsort schöngeistiger Studenten. Das Mansardenzimmer war über eine besonders halsbrecherische Treppe zugänglich. Sofas und Diwane mit ausgeleierten Rückenund Armlehnen bildeten einen Halbkreis vor einer Feuerstelle voller Asche. Hocker in ausgeblichenen Farben dienten als Beistelltischchen und Fußstützen. Die Wände bedeckte eine Tapete mit Feuchtigkeitsflecken und wo nicht, da brachen sie auch hier unter der Last von Büchern zusammen. Ein Schreibtisch im Hintergrund musste wohl Mycroft gehört haben. Franklin erblickte weiter eine Kommode mit einer Kaffeekanne, Teebeutel und Kräutermischungen, einen Samowar, Gläser und sogar eine angebrochene Flasche Bourbon. Hinter dem Schreibtisch thronte das Skelett einer Katze im Sprung und ein menschliches Gehirn, das in einer Chloroformlösung in einem mit Fingerabdrücken übersäten Einmachglas lag.
»Hier arbeitete er mit seinen Schülern. Nie mehr als etwa zehn pro Kurs.«
Frank hatte kaum den Fuß in dieses Chaos gesetzt, da war er schon fest entschlossen, niemals Kurse in dieser pompösen Baracke abzuhalten. Er musterte die Regalreihen: Arabische Klassiker aus dem 11. und 12. Jahrhundert, viele Griechen im Original, französische und deutsche Autoren in Übersetzungen.
»Haben Sie hier studiert?«, fragte er Mary.
»Nein. Ich habe Kurse in Geschichte und Zeichnen belegt. Ich mochte Doyle überhaupt nicht. Er machte mir Angst, dieser Typ.«
»Dieser Raum ähnelt mehr dem Versteck einer Gruppe von Aktivisten als einem Klassenzimmer von Englischstudenten …«
Mary lächelte.
»Da ist ein bisschen was dran. Jedenfalls können Sie damit machen, was Sie wollen. Sie sind jetzt der Professor.«
Weiter weg, hinter dem Pavillon, erblickte Frank drei Schilder, die auf mehrere Wege in den Wald hinwiesen: das Schachbrett, der Rosengarten und Theseus’ Labyrinth.
»Das sind allegorische Gärten, die vor etwa zwanzig Jahren angelegt wurden«, erklärte Mary. »Das Labyrinth aus Buchsbaumhecken erinnert an die Legende vom Minotaurus, die Wand aus Rosen spielt auf die Blumenmauer des Roman de la Rose an und das Schachbrett mit mannshohen Figuren zitiert die Welt der Literatur, denn jede Figur stellt einen anderen berühmten Schriftsteller dar. Aischylos, Cervantes, Shakespeare, Byron, sie sind alle vertreten. Hinter diesen Projekten steckt natürlich Doyle. Im Augenblick ist allerdings nichts davon zu sehen. Alles ist bis zum Frühling eingelagert.«
Franklin lächelte. In Chicago beschränkte sich die Besichtigung der
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